8.9.06

ceci n'est pas une pipe

Worte und Taten liegen in der Politik nicht selten weit auseinander. Die aktuelle Debatte um den Bundeshaushalt 2007 ist da keine Ausnahme. So lautet das brandneue haushaltspolitische Motto der Bundesregierung:
"Wir dürfen unsere Zukunft nicht verbrauchen, deshalb sanieren wir den Haushalt"
In der finanzpolitischen Realität sieht das dann jedoch so aus:
"Im Regierungsentwurf 2007 sind Ausgaben in Höhe von 267,6 Milliarden Euro veranschlagt. Das sind rund 2,3 Prozent mehr als im Haushalt 2006 vorgesehen sind" [Regierung Online].
Haushaltssanierung durch Mehrausgaben, Sparen mittels Steuererhöhung. Wie geht das zusammen? Die Psychologen kennen dafür den Ausdruck der kognitiven Dissonanz. Sie bezeichnet eine chronische Diskrepanz zwischen den eigenen Überzeugungen und den tatsächlichen Gegebenheiten. Kognitive Dissonanz auszuhalten scheint eine der wichtigsten Berufsvoraussetzungen für Politiker zu sein. Erlernt wird diese Eigenschaft in jahrelanger Partei- und Gremienarbeit. Quereinsteigern fehlt sie in der Regel, weshalb sie in der Politik nicht sonderlich beliebt sind und auch selten lange im Amt bleiben.

Aber es gibt noch eine zweite, radikalere Erklärung für das quasi-surrealistische Theaterspiel, das tagtäglich auf der politischen Bühne abläuft. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hat der französische Soziologe und Philosoph Jean Baudrillard - eine Art visueller Doppelgänger von Tatort Kommissar Max Palu - einen grundlegenden Wandel des Konzepts der repräsentativen Demokratie diagnostiziert. Im heutigen politischen System repräsentieren die Parteien und Politiker demnach nicht mehr den Willen der Wähler, sondern nur noch sich selbst. Die Wähler wiederum wollen auch gar nicht repräsentiert werden. Sie erwarten nicht mehr und nicht weniger als ein gut inszeniertes, spannend-unterhaltsames Bühnenspiel.

Da wundert es nicht, dass die Wahlplakate der großen Parteien seit langem nur noch drei Informationen enthalten: ein Foto des Kandidaten, seinen Namen und den Namen seiner Partei. Der Wahlkampf ähnelt immer mehr der Stierkampfwerbung in spanischen Kleinstädten. Das politische Programm der Parteien erfährt man, wenn überhaupt, nur durch den Wahlomat, mit dem die Bundeszentrale für politische Bildung mehr schlecht als recht versucht, ihrem Namen und gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden. Aber die Parteiprogramme sind ja auch nicht mehr wichtig in dieser modernen Form der demokratischen Repräsentation, in der das Volk in freien Wahlen eine Schauspielertruppe zusammenstellt, die dann vier Jahre lang eine wilde Mischung aus Arthur Schnitzlers "Reigen" und Becketts "Warten auf Godot" aufführt.

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