8.5.06

deutsche listen

Wer in der komplexen Realität moderner Industrie-, Freizeit-, Risiko- und Dienstleistungsgesellschaften den Überblick behalten will, der braucht Listen. Ohne Listen gäbe es weder Anfang noch Ende. Ohne Listen könnte ja jeder kommen ... oder niemand. Ohne Listen herrschte in allerkürzester Zeit die totale Beliebigkeit. Ganze Berufszweige verlören ohne ihre Listen den Boden unter den Füßen. Was, zum Beispiel, bliebe vom Autohändler ohne seine Schwacke-Liste? Was wäre der Artenschutz ohne die rote Liste? Was wäre noch Welterbe ohne UNESCO-Liste? Und wie lange noch rollte der Fußball ohne Transferliste? Listen sind aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Sie helfen uns, dem Chaos ein Schnippchen zu schlagen.

Das wissen auch die Beamten des Bundesfinanzministeriums. Jedes Mal wenn ihr Hausherr öffentlichkeitswirksam an einer Steuerschraube dreht, sind sie monatelang damit beschäftigt, das restliche Steuersystem wieder ins Lot zu bringen. Daher verwundert es kaum, dass sie schon längst damit begonnen haben, die angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer vorzubereiten. So muss minutiös festgelegt werden, welche Güter und Dienstleistungen aufgrund ihrer besonderen Förderungswürdigkeit lediglich dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent unterliegen. Ein paar einfache Daumenregeln reichen da natürlich nicht aus.

Wie im aktuellen SPIEGEL zu lesen ist, benötigte das Finanzministerium nicht weniger als 140 Seiten, um alles das aufzulisten, was nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer noch als besonders förderungsbedürftig gelten soll. Hierzu gehören Krabben und Garnelen, Maultiere und Maulesel, Pflanz- und Frühkartoffeln. Für Hummer, Langusten und Süßkartoffeln wie auch für den normalen Esel - sofern er nicht geschlachtet und zum Verzehr bestimmt ist - muss hingegen der volle Steuersatz berappt werden. Auf Ziermais und Gewürze entfällt der reduzierte Steuersatz, Zuckermais und Gewürzmischungen hingegen werden voll besteuert. Steuerlich gefördert werden, so der SPIEGEL, schließlich auch "Quallen, die Fettlebern von Gänsen und Enten sowie die Schlachtnebenerzeugnisse von Bibern, Walen, Fröschen und Schildkröten, sofern sie zur menschlichen Ernährung geeignet sind".

Eine nachvollziehbare Systematik ist dabei nicht erkennbar. Förderungswürdig ist das, was dem reduzierten Mehrwertsteuersatz unterliegt - nicht umgekehrt. Und andere, mindestens ebenso wichtige Listen, wie die des Artenschutzes, wurden offenbar sträftlich ignoriert. Anders ist die Mehrwertsteuerbefreiung für Schlachtnebenerzeugnisse von Walen, die zur menschlichen Ernährung geeignet sind, kaum zu verstehen.

Vor allem aber stellt sich angesichts dieses selbst in Listenform noch völlig unüberschaubaren Kuddelmuddels die Frage, ob sich der Staat mit seiner Praxis, jede noch so einfache Regel mit unendlich vielen hochkomplizierten Ausnahmen zu garnieren, nicht längst selbst überlistet hat.

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3 Comments:

Blogger Niklas said...

Aber ist dieser Listen-Fetisch etwas typisch Deutsches? Es spricht sicherlich einiges dafür, z.B. dieser herrlich dümmliche Werbespot von Mercedes-Benz, in welchem zunächst der Sinn und die Notwendigkeit von Listen abgefeiert wird und es dann zum Schluss sinngemäß heißt: "Aber allen Listen ist eines gemein, es steht immer jemand auf der ersten Position" und schon sieht man eine S-Klasse durchs Bild sausen. Und so vermengen sich "Ordnung muss sein", "Bürokratismus" und "schwäbische Ingenieurskunst" zu urdeutschen Werten.

10/5/06 16:57  
Blogger la deutsche vita said...

Wenn man "typisch" im Sinne von exklusiv versteht, dann sind Listen bestimmt nicht typisch deutsch. In den 80ern haben die amerikanischen Gogos "girl of a 100 lists" gesungen und Bridget Jones bringt jeden Tag die wichtigsten Koordinaten ihres Lebens in Listen. Listen gibt es also überall . Jedenfalls überall dort, wo die Realität komplex geworden ist. Trotzdem sind sie ein typisches Element der deutschen Realität - dass die Werbung auf sie anspielt ist ein guter Indikator dafür, dass sie längst im kollektiven Unterbewusstsein einen selbstverständlichen Platz einnehmen.

11/5/06 08:53  
Blogger Hobbes vs Boyle said...

Interessanter Beitrag. Ich hätte Listen auch eher mit Großbritannien in Verbindung gebracht, man denke an Nick Hornbys High Fidelity oder auch die wunderbaren Schott's Miscellany. Unterscheiden müsste man vermutlich noch zwischen der Rangliste und der bloßen Aufzählungsliste, zu der die MwSt-Liste dann wohl gehört. Ansonsten könnte man fragen, wie das Verhältnis von Liste und Klassifikation beschaffen ist: die Liste an sich leistet noch keine Komplexitätsreduktion und schafft keine Ordnung; dies zu leisten vermag sie erst, wenn sie in ein System eingebettet ist.

13/5/06 05:01  

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