21.9.06

pferderennen

Was unterscheidet einen Wahlkampf von einem Pferderennen? ... Nicht mehr viel. So jedenfalls sehen es jedenfalls die deutschen Fernsehanstalten.

Ihre Berichterstattung zur Bundestagswahl 2005 hat der Kommunikationswissenschaftler Ralf Hohlfeld untersucht. Das Ergebnis seiner Studie:
"Die politische Berichterstattung wird immer unpolitischer. Selbst die genuine Wahlkampfberichterstattung entpolitisiert sich. [...] Politische Sachthemen werden immer weiter marginalisiert. Dagegen dominieren politische Prozessthemen [...] die Berichterstattung. Es geht [...] um den Kampf, um das Rennen, um die Konkurrenzsituation. Dafür haben die US-Amerikaner den Begriff Horse-Race-Journalism geprägt. Wahlkampagne, Wahlwerbung oder der Wahlkampfverlauf mit seinen Stimmungswechseln und dem dialektischen Rhythmus von Angriff, Verteidigung und Gegenangriff besitzen im journalistischen Auswahlprozess hohen Nachrichtenwert. [...] Deshalb lassen sie sich so gut im Stile der Sportberichterstattung "framen", d.h. vom Regelsatz des Wettkampfs ungewissen Ausgangs rahmen. Der politische Wettbewerb der Parteien ist als selbstreferentielles Thema im Vergleich zu Politikinhalten so dominant, weil eine laufende Berichterstattung über Wahlkampfaktivitäten, Umfragen, neue Wahlkampfaktivitäten und Thematisierungsversuche für den politischen Journalisten im Wahlkampftross schnell, preisgünstig und ohne großen Rechercheaufwand neue Nachrichten liefert.

Fast drei Viertel der Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2005 bestand aus solchen politics issues, handelte also von Themen wie innerparteilichen Konflikten, Kampagnen, Wahlkampfstrategien, Wahlumfragen, Prognosen, Herabsetzungsbestrebungen gegenüber dem politischen Gegner und Kandidatenprofilen. [...]

Es ist zweifelsfrei einfacher, mit Zahlen zu hantieren, als die konkurrierenden Modelle der Sozialversicherungssysteme zu diskutieren. [...] Insofern sind "Bet & win"-Berichterstattung und Horse-Race-Journalismus als zeitgemäße Strategie wider die Tyrannei der komplizierten Entscheidungszwänge zu verstehen".
Wahlen als Sportereignis. Da wollen die Medien natürlich auch mitspielen. Immer öfter präsentieren sie sich deshalb selbst als aktive Teilnehmer im Parteienwettbewerb:
"Journalisten fragen Journalisten - dieser Trend ist zwar nicht neu, aber dennoch spielten Journalisten aus allen Medienbereichen als Interpreten des Wahlkampfs 2005 in Deutschland im Fernsehen eine zunehmend große Rolle. [...] Über den gesamten Zeitraum vom 24. Mai (Ankündigung von Neuwahlen) bis zum Wahltag am 19. September 2005 betrachtet, traten in der Wahlkampfberichterstattung Journalisten 95-mal in Gastrollen als Experten auf. Sie waren in Wahlsendungen, insbesondere in politischen Talkshows, zwar als Experten eingeladen, aber viele nutzten diese Foren, um Politik zu machen und um dezidierte Wahlempfehlungen auszusprechen: Dieses Phänomen kulminierte stark in der Person von Hans-Ulrich Jörges ('Stern'), der sechs Auftritte in politischen Wahlsendungen hatte - drei davon unmittelbar vor der Wahl - und dabei vehement gegen Gerhard Schröder als Kanzler und Rotgrün als Regierung eintrat".
Am Ende ähnelt dann sogar die Form der Wahlberichterstattung der des Sportjournalismus: Vor und nach dem "Spiel" wird den Gegnern reihum ein und dieselbe Frage gestellt: "Was sagen Sie zu X?" "Wie beurteilen Sie Y?".
"Das Ergebnis des zwanghaften Reihumbefragens sind ritualisierte und inhaltsfreie Sound-Bits von rund zehn Sekunden Länge, die gemäß der KISS-Logik (KEEP IT SHORT and SIMPLE) von Politikern abgesondert und in die Beiträge hineingeschnitten werden".
"Keep it short and simple". Jede Ähnlichkeit mit Jürgen Klinsmanns fußballerischer Devise "Ball annehmen, passen, bum, bum" ist reiner Zufall und frei erfunden.

Nachtrag: Auch der Politologe Claus Leggewie sieht zuviel Fern. In einem Sammelband mit dem Titel "Wettbewerbsspiele - Die Inszenierung von Sport und Politik in den Medien" untersucht er zusammen mit dem Sportwissenschaftler Jürgen Schwier die Gemeinsamkeiten von politischem und Sportjournalismus. Im Klappentext heißt es:
"Politik und Sport sind die Themen schlechthin in den Massenmedien. Ob Bundestagswahl oder Fußball-WM – beide Ereignisse beherrschen den Blätterwald und die Fernsehbilder über Wochen. Sie stellen beide einen Wettbewerb dar, der jeweils mit ähnlichen Mitteln in Szene gesetzt wird – als Drama und Spektakel, mit den Mitteln der Emotionalisierung und Personalisierung. In diesem Band werden Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Wechselwirkungen zwischen den massenmedialen Inszenierungen von Sport und Politik erörtert – und man staunt darüber, wie sich die Bilder gleichen".

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