11.5.06

selbstreflexion

In einem Land, in dem Vergangenheit und Zukunft auf nahezu alles ihre weiten Schatten werfen, bleibt die Gegenwart eigentümlich unterbelichtet. Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsangst bleibt gerade noch Zeit für 15 Minuten Tagesschau und ein Feierabendbier. Viele scheint das nicht zu stören. Dennoch fällt auf, dass sich in letzter Zeit die Versuche häufen, etwas Licht in den schummrigen deutschen Alltag zu bringen.

Die jüngste Initiative ist die "Deutsche Überlebensbibel" von Spiegel Online. Als "kultureller Reiseführer" soll die Artikelserie ausländische Besucher der Fußball WM auf die nationalen Eigenarten der Deutschen vorbereiten. Ähnlich einem Beipackzettel, der über Risiken und Nebenwirkungen des ersten Deutschlandbesuchs informiert, werden unsere WM-Gäste behutsam und mit leicht-distanzierter Ironie auf solch ungewohnte Anblicke und Erfahrungen wie Langzeitstudenten, Servicewüste, Schrebergärten, Biowetterfühligkeit, Strandkörbe, Dr. Sommer, Mülltrennung und Nacktbaden vorbereitet. Obwohl kaum ein Stereotyp ausgelassen wird, ist der Wiedererkennungswert der Beiträge überraschend hoch.

Nur Charakterzug fehlt in der Liste deutscher Verschrobenheiten: die Tendenz, Selbstreflexion vorzugsweise vor ausländischem Publikum zu betreiben. Die Tatsache, dass die Spiegel-Serie bisher nur auf Englisch erschienen ist, ist der vielleicht eindrucksvollste Beleg hierfür.

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