26.4.06

perspektiven

Die Zukunft ist die Zeit, die auf die Gegenwart folgt. Dieser Satz mag auf den ersten Blick eher banal erscheinen. Dennoch führt genau diese Tatsache dazu, dass wir einen nicht unerheblichen Teil unserer Gegenwart darauf verwenden, uns Gedanken über die Zukunft zu machen. Diese Gedanken nennen wir dann Perspektiven und veröffentlichen sie schnell, solange sie noch Zukunft und nicht schon Gegenwart oder gar Vergangenheit sind, in edlen Hochglanzbroschüren. Eine solche Broschüre mit dem zukunftsweisenden aber gleichwohl wenig originellen Titel "Perspektive Deutschland" wurde heute in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. Basierend auf einer online-Befragung von 621.000 Bundesbürgen kommt sie zum Ergebnis, dass sich die Deutschen in Zukunft mehr Leistungsorientierung, mehr Eigenverantwortung, mehr Markt und einen "schlanken Staat" wünschen. Gleichzeitig soll dieser schlanke Staat aber auch die sozialen Unterschiede in Deutschland verringern und seine Bürger gegen alle Lebensrisiken wirksam absichern. Dieser eklatante Widerspruch müsste jeden seriösen empirischen Sozialforscher dazu veranlassen, seinen Fragebogen und seine Erhebungsmethode kritisch zu hinterfragen. Die Träger von "Perspektive Deutschland", McKinsey, stern, ZDF und WEB.DE, und ihr Schirmherr Richard von Weizsäcker machen aus der Not jedoch eine Tugend. Mit Hilfe eines neuen, wissenschaftlich anmutenden Labels verwandeln sie den unauflösbaren Widerspruch in einen gesellschaftlichen Trend: die "soziale Leistungsgesellschaft". Und möglicherweise haben sie damit auch noch Recht. Denn zumindest eines hat die deutsche Reformdebatte der vergangenen Jahre sehr deutlich gemacht: Die Deutschen wollen alles, und zwar sofort. Ihre epistemologische Grundhaltung, wenn es denn überhaupt eine solche gibt, ist ein naiv-vertrauensseliges "Rette-mich-wer-kann". Ihre Zukunftsperspektive ist die lineare Fortschreibung von Vergangenheit und Gegenwart. Reformen sind willkommen, allerdings nur dann wenn sie den einmal erreichten status quo ohne Abstriche beibehalten. Zukunft ist Gegenwart plus x. Perspektiven sind Wunschlisten. Und Umfragen sind die neue Form der demoskopischen demokratischen Willensbildung.

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25.4.06

global reisen, lokal denken

Das Verhalten deutscher Touristen im befreundeten Ausland ist mitunter etwas gewöhnungsbedürftig. Zwar ist diese Beobachtung alles andere als neu, ja es ist fast peinlich, darüber zu schreiben, aber die Konsequenz und der Ideenreichtum mit denen unsere Landsleute andere Völker mit ihren verschrobenen Verhaltens- und Denkweisen konfrontieren, überrascht immer wieder aufs Neue. Vorläufiger Höhepunkt auf der nach oben offenen Skurrilitätsskala ist die deutsche Urlauberin am portugiesischen Marktstand, die ohne ein einziges Wort zu sprechen auf unterschiedliche Frucht- und Gemüsesorten zeigt und dazu jedes Mal mit dem Finger eine Zahl in die Luft schreibt. Den ratlosen Blick der Marktfrau und alle Möglichkeiten der verbalen Kommunikation ignorierend schreibt die Urlauberin so lange ihre stummen Zahlen in die Luft, bis die Verkäuferin ihr genervt einen Stift und ein Blatt Papier reicht.

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4.4.06

original und fälschung

Je länger man in Jean Baudrillards "Amerika" liest, seinem impressionistischen Vergleich der neuen mit der alten Welt, desto mehr drängt sich der Eindruck auf, dass er Deutschland meint, wenn er "wir" oder "Europa" schreibt:
"Amerika ist die Originalausgabe der Moderne, wir sind die Zweitfassung oder die mit Untertiteln. (...) Amerika realisiert alles und geht zu diesem Zweck wild und empirisch vor. Wir dagegen träumen nur und schreiten von Zeit zu Zeit zur Tat."

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1.4.06

standort deutschland

Würde ein Außerirdischer nach einem zweiwöchigen Deutschlandaufenthalt inklusive Sprachkurs und intensiver Zeitungslektüre von seinen Artgenossen gefragt werden, was denn nun genau "Deutschland" sei; er würde mit ziemlicher Sicherheit antworten: "Ein Standort".

"Aber was zum extraterrestrischen Teufel ist ein Standort?" würden seine außerirdischen Freunde und Kollegen fragen. "Ein Standort, das ist ein Ort, dessen Vorzüge ohne Unterlass nach außen gepriesen und dessen Nachteile nach innen umso vehementer beklagt werden". So, oder so ähnlich könnte die Antwort unsere Aliens lauten, falls er sich während seines Aufenthalts auch wirklich die Mühe gemacht hätte, jeden Tag den Politik- und Wirtschaftsteil der wichtigsten deutschen Zeitungen zu lesen. "Ein Standort, das ist eine deutsche Fiktion, die allem anderen übergestülpt und zum Maß aller Dinge gemacht wird. Zum Beispiel wird die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland mehr als Standortfaktor denn als Sportereignis angesehen".

Spätestens an dieser Stelle hörten die sportbegeisterten Aliens auf, ihrem Freund und Kollegen Glauben zu schenken. Seine subversiven Reiseberichte würden zensiert und das Studienprogramm "Deutschland" würde ersatzlos gestrichen. Die nächste Fußballweltmeisterschaft fände irgendwo im Weltall statt. Nur der "Standort" bliebe in Deutschland.

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bio bio

Ein kurzer, aufschlussreicher Blick auf die Produktpalette eines deutschen Bioladens:
  1. Das "Aura Spray": "Für Körper, Geist und Seele. Die Aura eines Menschen, im Volksmund auch 'Ausstrahlung' genannt, lässt sich mittels spezieller Messgeräte messen aber auch fotographisch darstellen. Unsere Aura unterliegt je nach Stimmung und äußeren Einflüssen ständigen Schwankungen. Das Lea Auraspray verbessert und verfeinert die persönliche Aura. Messungen vor und nach Benützung dieses Sprays haben dabei eine deutliche, positive Veränderung der Aura erbracht."

  2. Das "Magnetarmband": "Leider stören moderne Zivilisationserrungenschaften (z.B. Elektrizität, Stahlbeton) die Gleichgewichte und Magnetfelder, die unser Körper so dringend zur Regeneration benötigt. Unser Magnetarmband mit 1000 Gauss hilft, das körpereigene Magnetfeld zu harmonisieren. "

  3. Die "Energiekarte": "Energie auch für unterwegs. Vitalisieren Sie Ihre Speisen und Getränke wo auch immer Sie sich befinden. Die Lea Energiekarte wird mit Hilfe einer physikalischen Technologie eine geordnete Schwingung eingeprägt. Diese ultrafeine harmonische Schwingung überträgt sich nach dem Resonanz-Prinzip auf Wasser und alle wasserhaltigen Lebensmittel Unsere Energiekarte besteht aus hochwertigem Edelstahl und hat Scheckkartenformat. Da sie keine magnetische Wirkung besitzt, kann sie problemlos auch in der Brieftasche aufbewahrt werden."
Die esoterischen Irrwege der Aufklärung nehmen langsam Überhand: "300 Jahre öffentliche Aufklärung, 300 Jahre einsame Schlussfolgerungen" (Jürgen Manthey).

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