29.3.07

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"Man kann über die Kantische Philosophie, über theologische Fragen, über Idealismus oder Empirismus streiten, ohne dass daraus jemals etwas anderes hervorgeht als Bücher."
[Mme de Staël, Über Deutschland, S. 711]

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27.3.07

die verspätete nation

In Deutschland wird Kritik gerne mit Theorie verwechselt. Nicht, dass das problematisch wäre. Im Ergebnis laufen Theorie und Kritik wahrscheinlich auf dasselbe hinaus: die schrittweise Annäherung der Beobachtung an eine mehr oder weniger objektiv erfassbare Wahrheit. Aber der Weg dahin unterscheidet sich in beiden Fällen grundlegend. Während bei der Theorie der Glaube am Anfang steht, beginnt die Kritik mit dem Zweifel. Der Theoretiker bastelt begeistert am großen Entwurf, während der Kritiker beharrlich daran herumnörgelt.

Fragt sich nur, warum ausgerechnet die Deutschen in der internationalen geistesgeschichtlichen Arbeitsteilung so oft den mindestens ebenso undankbaren wie unverzichtbaren Part des Kritikers übernommen haben. Vor knapp 200 Jahren hat sich die französische Schriftstellerin Germaine de Staël dazu Gedanken gemacht und ist zu einem überraschenden Ergebnis gekommen. Die Deutschen kritisieren weil sie dauernd zu spät kommen. Da sie das Rad nicht ein zweites Mal erfinden können, kritisieren sie es eben. Nur so können sie sich Raum schaffen, für neue Ideen. Mit Blick auf die deutsche Literatur schreibt de Staël:
"Die deutsche Literatur ist vielleicht die einzige, die mit der Kritik angefangen hat; in allen andern sind die Meisterwerke [der Kritik] vorangegangen, in Deutschland war sie es, die [die Meisterwerke] erzeugte. [...] Verschiedene andere Nationen hatten sich seit mehreren Jahrhunderten in der schriftstellerischen Kunst ausgezeichnet, die Deutschen kamen später als alle anderen, und glaubten eben nichts Besseres zu tun zu haben, als auf der gebahnten Straße fortzuschreiten; die Kritik musste daher zuerst die Nachahmung beseitigen, um der Eigentümlichkeit Raum zu schaffen."

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zitat der woche

"Nicht überall ist Regen so unpopulär wie in Deutschland."
[Quelle]

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26.3.07

zweierlei maß

"Putzen für zwei Euro die Stunde, Haare schneiden für 3,50 - in Deutschland wird ehrbare Arbeit immer häufiger nur sittenwidrig niedrig bezahlt. Aber Hungerlöhne verstoßen gegen die Menschenwürde; sie gefährden die soziale Stabilität im Land."
Nein, das ist kein neo-marxistisches Manifest, kein anti-imperialistischer Schlachtruf, kein Auszug aus dem Programmheft des Brecht-Ensembles und auch nicht der Klappentext des neuesten Gabor-Steingart-Bestsellers. Das ist die aktuelle Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Kaum zu glauben, dass die wunderbarste deutsche Revolutionsprosa im Jahr 2007 direkt aus der großkoalitionären Bundesregierung kommt. Dagegen sind die kaum verständlichen und nebulösen Versatzstücke linker Kapitalismuskritik, mit denen der ex-Terrorist Christian Klar vor ein paar Wochen das gesamte polit-opportunistische Etablissement schockte, nur Peanuts.

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schlafende mehrheiten

Die Europäische Union liegt in einem Dornröschenschlaf. So jedenfalls sieht es Jürgen Habermas. Seiner Ansicht nach ist der Versuch einer europäischen Verfassung bisher nicht am Widerstand der EU-Bevölkerung gescheitert, sondern an einer merkwürdigen, sozialwissenschaftlich noch kaum erforschten Schläfrigkeit der Reformwilligen. Im dpa-Interview antwortet er auf die Frage, was einer Vertiefung der EU-Institutionen bisher im Wege steht:
"Nicht [der] Widerstand der Bevölkerungen! Das ist zwar die nahe liegende, aber falsche Vorstellung, die sich nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und den Niederlanden festgesetzt hat. Tatsächlich haben wir in den meisten kontinentalen Ländern nach wie vor schlafende Mehrheiten für eine Vertiefung der Europäischen Union."
Na klar! Schlafende Mehrheiten! Warum ist bloß bisher noch niemand darauf gekommen? Mit dem Begriff der schlafenden Mehrheit könnte Habermas einen richtigen Treffer gelandet haben. Der Begriff hat einfach alles, was ein sozialwissenschaftliches Konzept braucht, um auch außerhalb des Elfenbeinturms erfolgreich zu sein. Er ist unpräzise, offen für die unterschiedlichsten Interpretationen, passt auf fast jede Situation und eignet sich hervorragend dazu, politische Niederlagen ohne Gesichtsverlust zu rechtfertigen. Dazu erweckt er den Anschein von Wissenschaftlichkeit und - was am wichtigsten sein dürfte - eröffnet eine bequeme Perspektive für die Zukunft: man kann getrost weitermachen wie bisher. Es muss nur gelingen, die schlafende Mehrheit zu wecken, dann wird alles gut. Wie das genau geschehen soll und warum die schlafende Mehrheit im EU-Fall ausgerechnet bei dem von Habermas vorgeschlagenen europaweiten Verfassungsreferendum aufwachen sollten, bleibt offen. Aber der eine oder andere europäische Politiker dürfte sich schon Gedanken darüber machen, wie er seine Wählerschaft in Zukunft am wirksamsten wachküssen kann.

[via]

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22.3.07

der traum vom deutschen einheitsstaat

"Es wäre nicht vermittelbar, wenn in einer Kneipe in Kassel das Rauchen verboten, und im wenige Kilometer entfernten Göttingen wieder erlaubt wäre" [Lothar Binding, SPD, zum geplanten Rauchverbot in Kneipen und Restaurants].

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20.3.07

trittbrettfahrer

In den siebziger Jahre war die FDP einmal eine richtige Umweltpartei. Seitdem ist sie in Sachen Umweltschutz eigentlich nur noch an ausgewählten Tankstellen in Erscheinung getreten, wo sie vor laufenden Kameras verdutzten Autofahrern die rot-grüne Ökosteuer zurückerstattet hat. Oder durch den Vorschlag, die nationale Ölreserve anzuzapfen um die Benzinpreise zu senken - eine Schnapsidee, die Liberalpopulist Guido Westerwelle damals als "kluge und sinnvolle Möglichkeit" bezeichnete.

Doch jetzt, wo von Bild bis ADAC plötzlich jeder in Deutschland schon immer Klimaschützer war, ist die "Vorfahrt-für-Arbeit"-Programmatik der FDP passé. Schnell gräbt sie ihre grünen Wurzeln aus, legt kummervoll die Stirn in Falten und sorgt sich um die Umweltverträglichkeit der Dienstwagenflotte der Bundesregierung. Dabei entdeckt sie "dass die Bundesregierung ihrer umwelt- und klimapolitischen Vorbildfunktion nicht nachkommt" und fordert:
"Die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung in der Umwelt- und Klimapolitik muss sich an ihrem eigenem (sic) Verhalten beim Beschaffungswesen messen lassen."
Selten lagen die FDP und Umweltschutzverbände wie die Deutsche Umwelthilfe so nahe beieinander. Damit dürfte einer Ampel- bzw. Jamaica-Koalition nicht mehr viel im Weg stehen.

[P.S.: Quizfrage: Welcher Minister fährt den dicksten Dienstwagen?]

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19.3.07

kinder, kinder

Aus einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestags:
"Die Kinderkommission [des Bundestages] hat in dieser Wahlperiode eine Reihe von Anfragen zum Thema 'Kinderlärm' erhalten und sich in diesem Zusammenhang mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung befasst. Bau- und Verkehrslärm scheint eher akzeptiert zu sein als lautes Spielen."
Das ist zwar schlimm, aber die Rettung für's kinder- und familienfreundliche Deutschland ist nicht weit. Denn wer Kinderlärm kritisiert:
"verstößt gegen Artikel 31 der UN-Kinderrechtskonvention, wonach Kinder unter anderem ein Recht auf Spiel und altersgemäße aktive Erholung haben."
Wahrscheinlich werden deutsche Spielplätze und Kindergärten demnächst unter Blauhelm-Schutz gestellt.


P.S.: Die Kinderkommission heißt in Wirklichkeit natürlich nicht einfach Kinderkommission, sondern "Kommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder".

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15.3.07

second life - oder: die simulation der simulation

"Second Life ist die Web-3D-Simulation einer virtuellen Welt". So lautet der erste Satz einer Kurzstudie des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags. Vielleicht sollte man diesen Lapsus nicht überbewerten. Wahrscheinlich ist es nur ein unbedeutender Fehler in der Übersetzung des ersten Satzes der Selbstdarstellung von Second Life, wo es heißt "Second Life is a 3-D virtual world". Aber irgendwie ist es auch symptomatisch, dass gerade unsere Polit-Avatare (vulgo: Volksvertreter) der Virtualität von Second Life noch eins drauf geben und quasi durch die Hintertür eine zusätzliche Ebene der Simulation einbauen.

Denn das Verhältnis eines Bundestagsabgeordneten zur Bevölkerung ist dem des Avatars zum Second Life Spieler nicht ganz unähnlich. Sie sind virtuelle Stellvertreter. Sie simulieren das Verhalten, das von ihnen erwartet wird. Einige von ihnen sind sehr aktiv, andere hingegen sind nur formal angemeldet und haben sich schon seit langem nicht mehr in den politischen Prozess eingeloggt. Parlamentsabgeordnete sind ziemlich "second life", halten sich aber natürlich für viel wirklicher als die bunten Manga-Nachfahren Robert-T-Onlines. Außerdem klingt "second life" für den Laien (den es auch nach der Bundestagsstudie noch gibt) nach Rente, Altersheim oder einfach nur Plan-B. Damit will kein "first life" in Verbindung gebracht werden.

Und so macht der Bundestag, bzw. stellvertretend für ihn sein wissenschaftlicher Dienst, das second life zum third life und bereitet dadurch ganz nebenbei auch den Weg für Repräsentation der Repräsentanten in der schönen neuen virtuellen Welt.

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redefreiheit

"In Österreich und im übrigen Deutschland werden alle Prozesse schriftlich geführt. Die Advokaten halten keine Reden. (...) Die Staatsverwaltung ist ebenso weise als gerecht; aber alles geschieht mit soviel Methode, dass es wirklich schwierig wird, zu entscheiden, ob etwas darin Menschenwerk ist. Die Geschäfte folgen aufeinander nach der Nummer; es wird um nichts von der Welt von dieser Ordnung abgewichen. Unveränderliche Regeln entscheiden überall, alles wird im tiefsten Stillschweigen betrieben; dieses Stillschweigen ist aber keineswegs die Folge der Furcht (...). Gleichwohl nimmt diese tiefe Geistes- und Seelenruhe der Rede ihr ganzes Interesse. Weder das Verbrechen noch das Genie, weder die Intoleranz noch der Enthusiasmus, weder die Leidenschaften noch der Heldenmut stören die Existenz oder erheben sie."
[Madame de Staël, 1766-1817, Über Deutschland]

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13.3.07

klimaschutz und innerweltliche askese

Wenn Deutsche nach dem Sinn des Lebens suchen, dauert es nicht lange, bis sie von Entsagung und Verzicht reden. Nur die Askese, also der "Verzicht auf sinnliche Genüsse und Vergnügungen zugunsten der Erreichung eines als höherwertiger oder innerlich befriedigender erachteten Ziels" (Wikipedia), kann uns von der allgegenwärtigen Entfremdung erlösen.

So kommt es, dass der Deutsche nach Ladenschluss in sich geht und seine ganz individuelle Strategie der Selbsterlösung entwirft. Wahlweise wird er dann zum Vegetarier oder verzichtet aufs Fernsehen, hangelt sich von einer Diät zur nächsten oder zieht aufs Land, trägt nur noch dicke Wollsocken oder verkauft sein Auto. Oder er wird zum Vegetarier, trägt nur noch Wollsocken und verkauft sein Auto. Denn die einzelnen Elemente der Erlösungsstrategie sind frei kombinierbar und können so passgenau auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnitten werden. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt dieses modularen Charakters der Askese ist, dass sie fashion-kompatibel wird - also problemlos der jeweils aktuellen Mode angepasst werden kann. Die Medien haben das natürlich längst erkannt und versorgen ihre sinnsuchende Kundeschaft regelmäßig mit den aktuellsten Tips zur ethischen Lebensführung. Heute im Programm: der Klimaschutz. Wie sich das im schlimmsten Fall anhören kann, zeigt die ZEIT in 18 kumpelhaft-jovial formulierten und niedlich bebilderten Belehrungen:
"Wasser ist was Schönes, besonders, wenn man eine richtig große Badewanne hat. Diese aber ist ein furchtbar tiefes Energie-Grab, denn irgendwie muss das viele Wasser erhitzt werden. Neben der Heizung trägt die Warmwasserbereitung am stärksten zum Energiebedarf deutscher Behausungen bei. Der denkbar schlechteste Weg zum warmen Nass führt über den Boiler oder einen Durchlauferhitzer. (...) Entscheidend ist auch, wie heiß man's haben möchte: Mehr als 60 Grad Celsius muss das Wasser nicht warm sein, diese Temperatur lässt sich auch an der zentralen Warmwasseranlage einstellen. Und Baden sollte man eben nur in Ausnahmefällen: Duschen - zumal kalt! - verbraucht einfach weniger Energie und macht wach."
"Toast, Tee und Eier verschönern das Frühstück. Ihre Zubereitung indes verzehrt eine Menge Strom. Will man an Wasserkocher, Eierautomat und Toaster sparen, bietet sich nur eine Möglichkeit: fürderhin spartanisch zu frühstücken, denn zu den Kleingeräten gibt es keine Alternative. Wasser oder Eier auf dem Herd zu erhitzen, verbraucht beinahe doppelt so viel Energie. Geröstetes Brot aus dem Backofen, klingt nicht nur umständlich, sondern ist auch Stromverschwendung."
"Strahlend weiße Wäsche, flauschige Kuschelpullis und immer ein frisches T-Shirt auf dem Leib. Waschen hat nicht mehr allein mit Sauberkeit zu tun, hier geht es längst um mehr: ums Lebensgefühl. Kaum ein Kleidungsstück ist heute so dreckig, dass es unbedingt in die Trommel müsste, indes: es landet trotzdem dort - und hinterher womöglich noch im Wäschetrockner. Eine Orgie der Energieverschwendung. Nun sollte zwar niemand dazu übergehen, seine Klamotten bis zur Unerträglichkeit zu tragen. Aber der Temperaturwähler an der Waschmaschine hat auch kleine Zahlen, die von 30 bis 40 nämlich, und die reichen allemal, um ein bisschen Hautfett, Staub und Kneipenmief aus den Hemden zu spülen."
Und zum toast-, tee- und eierfreien Frühstück im ungebügelten Drei-Tage-Hemd lese ich dann kalt-geduscht, glücklich und erfüllt vom wahren Sinn des Lebens meinen Grillparzer:
Eins ist, was altergraue Zeiten lehren,
Und lehrt die Sonne, die erst heut getagt:
Des Menschen ewges Los, es heißt: entbehren,
Und kein Besitz, als den du dir versagt.

Die Speise, so erquicklich deinem Munde,
Beim frohen Fest genippter Götterwein,
Des Teuren Kuß auf deinem heißen Munde,
Dein wärs? Sieh zu! ob du vielmehr nicht sein.

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12.3.07

zitat der woche

"Dabei variierte der Frauenanteil zwischen den Vollzugsarten."
[Mitteilung des Statistischen Bundesamts zum Anteil weiblicher Häftlinge in deutschen Gefängnissen]

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10.3.07

offene fragen

"Kann einen eine größere Bühne zu einem kleineren Helden machen?"
[Sylvère Lotringer, New Yorker Gespräche, Merve Verlag]

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7.3.07

das ende einer geschichte

"Eines Tages werden wir uns erheben und unsere Hintern werden am Stuhl kleben bleiben"
[Jean Baudrillard, * 27. Juli 1929; † 6. März 2007]

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6.3.07

deutsch ...

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