Es gibt Bücher, die muss man gelesen haben um zu wissen, was in ihnen steht. Sie widersetzen sich der Verschlagwortung und sind auch dann noch aktuell, wenn ihr Autor längst im Nebel des bürgerlichen Bildungskanons verschwunden ist. Zu diesen Büchern gehört
Madame de Staëls "Über Deutschland", erschienen 1813 in ihrem Londoner Exil.
Präzise und nüchtern im Stil, ganz gleich ob es sich um Alltagsbeobachtungen oder politische Analysen handelt, schreibt sie über die deutsche Architektur und Wohnkultur:
"Die neuere Baukunst in Deutschland liefert nichts Erwähnenswertes; im ganzen aber sind die Städte wohl gebaut, und die Eigentümer verzieren ihre Häuser mit biederer Sorgfalt. In manchen Städten sind die Häuser von außen bunt angemalt; man stößt auf Heiligenbilder, auf Zierate aller Gattung, nicht eben vom besten Geschmack, wodurch aber die Einförmigkeit der Wohnungen unterbrochen und der Wunsch angedeutet wird, seinen Mitbürgern und Fremden zu gefallen".
Das Buch beschränkt sich aber nicht auf die kulturanthropologische Beschreibung des deutschen Lebensstils. Dieselbe Struktur, die Madame de Staël am Beispiel der privaten Wohnkultur darstellt, erkennt sie vielmehr auch im gesellschaftlichen und politischen System Deutschlands: Sorgfalt und Detailversessenheit nach innen, pragmatische Funktionalität und Orientierung am kleinsten gemeinsamen Nenner nach außen. Eine Art gesamtgesellschaftliches
Subsidiaritätsprinzip, das das private Wohnzimmer zur zentralen gesellschaftlichen Einheit macht.
Die historischen Wurzeln dieses Phänomens sieht Mme de Staël in der traditionellen deutschen Kleinstaaterei. Als "aristokratischem Bundesstaat" fehlte es Deutschland schon immer "an einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Aufklärung und des Gemeingeistes". Hieraus erklären sich die bis heute offensichtlichen Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen. Während der Franzose als gesellschaftliches Wesen großen Wert auf das Urteil der anderen legt und seine ständige Bereitschaft zur gegenseitigen Anpassung den sozialen Umgang erleichtert, bleibt der Deutsche ein ungeschliffener Einzelgänger, der sich nichts anderem verpflichtet fühlt als seinen eigenen Gedanken ... und dem Gesetz.
Rund 100 Jahre nach Mme de Staël spinnt Kurt Tucholsky diesen Gedanken in seiner Glosse "
Die Neutralen" weiter. Anders als in Frankreich, so Tucholsky, mangelt es in Deutschland an gesellschaftlichem Takt, an gegenseitigem Respekt und vor allem an der Fähigkeit, die eigene Meinung zum Wohle der Allgemeinheit einmal zurückzuhalten. Weil es keine wirkliche gesellschaftliche Sphäre gibt, fällt es den Deutschen schwer, zwischen Öffentlichem und Privatem zu unterscheiden. Und weil jeder seine privaten Gedanken mit dem nicht vorhandenen gesellschaftlichen Diskurs verwechselt, prallen eigenbrötlerische Meinungen, von denen keine einzige sich je einem Realitätstest unterzogen hätte, ungebremst und unvermittelt aufeinander. Das Ergebnis beschreibt Tucholsky so:
In Deutschland "kümmern alle sich um alles. Jeder reibt sich an jedem. Benimmt sich einer schlecht, so sind gleich zwanzig da, die ihm das sagen, dreißig, die Partei gegen die zwanzig nehmen, und hundertundfünfzig, die ihre individualpsychologischen, wirtschaftspolitischen und allgemeinen Erwägungen an diesen Fall lehrhaft knüpfen. (...) Denn der Deutsche ist nicht nur ein Schulmeister, sondern vor allem ein öffentlicher Schulmeister. Er belehrt die Welt, er nimmt sie entsetzlich ernst, und besonders da, wo sie das gar nicht verdient, wo es nicht lohnt. Bei deutschen Zwischenfällen hat man immer das Gefühl, als seien sie nur Anlaß zur Entladung aufgespeicherter Energien, die nur darauf gewartet hätten, herauszupuffen. Die Deutschen sind mit Offensivgeist getränkt. Der Aufwand an Radau steht meist in gar keinem Verhältnis zur Sache – aber das Prinzip, das Prinzip muß durchgefochten werden. Die allgemeine Nervosität, die viel mehr ist als nur das, liegt auf der Lauer. Die Luft ist geladen. Ein unbedachtes Wort – und der Straßenbahnwagen verwandelt sich in eine Tobsuchtszelle. Belehrend, protestierend, gegen den Protest aneifernd, schreiend, rechthaberisch – so keifen sie durcheinander".
Das öffentliche Leben in Frankreich und überhaupt im westlichen Ausland, schließt Tucholsky, spielt sich "geräuschloser ab, glatter, geölter".
Aber genau das wusste Mme de Staël schon lange. Eine kleine Prise des gesellschaftlichen Geists Frankreichs würde den Deutschen ihrer Meinung nach mehr als gut tun. Vor allem sollten die Deutschen
"von den Franzosen lernen, sich in Kleinigkeiten minder reizbar zu zeigen, um ihre ganze Kraft für größere Gegenstände aufzusparen; sie sollten Starrsinn von Tatkraft, Grobheit von Festigkeit unterscheiden lernen; und da sie einmal so geneigt sind, ihr Leben an etwas zu setzen, so sollten sie es nicht im einzelnen durch eine Art kleinlicher Persönlichkeit wiederfinden, die sich das wahre Selbstbewusstsein nicht erlauben würde".
Es gibt Bücher, die muss man gelesen haben, um zu wissen, was in ihnen steht. Nur weiß man leider selten vorher, welche das sind.
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