30.5.06

weltmeisterliches

Deutschland ist Weltmeister ... Weltmeister in allem, nur nicht im Fußball. Dass unsere Wirtschaft chronischer Exportweltmeister ist, dürfte niemandem entgangen sein. Der weltmeisterliche Ausbau der Windenergie ist kaum zu übersehen. Auch im Murmeln, im Abhören und sogar im Roboterfußball lässt Deutschland alle anderen Länder hinter sich. Am unschlagbarsten jedoch sind wir im Nörgeln. Glaubt man den Stereotypen, so gehört das Klagen, Kritisieren und sich Beschweren seit jeher zur serienmäßigen Grundausstattung des Deutschen. Optimismus und Lebensfreude hingegen sind meist nur gegen einen deutlichen Aufpreis erhältlich. Schon vor 200 Jahren galt:
"Ein deutscher General, der eine Schlacht verliert, ist sicherer, Nachsicht zu erhalten, als einer, der sie gewinnt, glänzendes Lob einzuernten" (Mme de Staël, Über Deutschland).
Heute ist zwar vieles anders. Die Schlachtfelder vergangener Zeiten heißen jetzt Fußballstadien, aus Generälen wurden Teamchefs und verheerend ist allerhöchstens noch die Medienschelte nach einem zu lustlosen Auftritt der Mannschaften. Aber eines ist geblieben: uneingeschränktes Lob ist selbst nach packenden Erfolgen eine Seltenheit. Immer gibt es etwas auszusetzen. Genau dieselben unergründlichen psychischen Strukturen, die einen SpiegelOnline-Redakteur dazu veranlasst haben, seinen insgesamt positiven Artikel über die Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs mit der Überschrift "Erster Zug mit erster Verspätung" zu versehen, werden auch die öffentliche Resonanz auf das Spiel der deutschen Nationalmannschaft prägen. Nur ein Trost bleibt. Im Fall eines Misserfolgs kann unser Fußballgeneral auf Nachsicht hoffen. Falls er dann nicht schon im Flugzeug über dem Atlantik sitzt.

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29.5.06

deutsche wichtigkeiten

Es gibt Bücher, die muss man gelesen haben um zu wissen, was in ihnen steht. Sie widersetzen sich der Verschlagwortung und sind auch dann noch aktuell, wenn ihr Autor längst im Nebel des bürgerlichen Bildungskanons verschwunden ist. Zu diesen Büchern gehört Madame de Staëls "Über Deutschland", erschienen 1813 in ihrem Londoner Exil.

Präzise und nüchtern im Stil, ganz gleich ob es sich um Alltagsbeobachtungen oder politische Analysen handelt, schreibt sie über die deutsche Architektur und Wohnkultur:
"Die neuere Baukunst in Deutschland liefert nichts Erwähnenswertes; im ganzen aber sind die Städte wohl gebaut, und die Eigentümer verzieren ihre Häuser mit biederer Sorgfalt. In manchen Städten sind die Häuser von außen bunt angemalt; man stößt auf Heiligenbilder, auf Zierate aller Gattung, nicht eben vom besten Geschmack, wodurch aber die Einförmigkeit der Wohnungen unterbrochen und der Wunsch angedeutet wird, seinen Mitbürgern und Fremden zu gefallen".
Das Buch beschränkt sich aber nicht auf die kulturanthropologische Beschreibung des deutschen Lebensstils. Dieselbe Struktur, die Madame de Staël am Beispiel der privaten Wohnkultur darstellt, erkennt sie vielmehr auch im gesellschaftlichen und politischen System Deutschlands: Sorgfalt und Detailversessenheit nach innen, pragmatische Funktionalität und Orientierung am kleinsten gemeinsamen Nenner nach außen. Eine Art gesamtgesellschaftliches Subsidiaritätsprinzip, das das private Wohnzimmer zur zentralen gesellschaftlichen Einheit macht.

Die historischen Wurzeln dieses Phänomens sieht Mme de Staël in der traditionellen deutschen Kleinstaaterei. Als "aristokratischem Bundesstaat" fehlte es Deutschland schon immer "an einem gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Aufklärung und des Gemeingeistes". Hieraus erklären sich die bis heute offensichtlichen Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen. Während der Franzose als gesellschaftliches Wesen großen Wert auf das Urteil der anderen legt und seine ständige Bereitschaft zur gegenseitigen Anpassung den sozialen Umgang erleichtert, bleibt der Deutsche ein ungeschliffener Einzelgänger, der sich nichts anderem verpflichtet fühlt als seinen eigenen Gedanken ... und dem Gesetz.

Rund 100 Jahre nach Mme de Staël spinnt Kurt Tucholsky diesen Gedanken in seiner Glosse "Die Neutralen" weiter. Anders als in Frankreich, so Tucholsky, mangelt es in Deutschland an gesellschaftlichem Takt, an gegenseitigem Respekt und vor allem an der Fähigkeit, die eigene Meinung zum Wohle der Allgemeinheit einmal zurückzuhalten. Weil es keine wirkliche gesellschaftliche Sphäre gibt, fällt es den Deutschen schwer, zwischen Öffentlichem und Privatem zu unterscheiden. Und weil jeder seine privaten Gedanken mit dem nicht vorhandenen gesellschaftlichen Diskurs verwechselt, prallen eigenbrötlerische Meinungen, von denen keine einzige sich je einem Realitätstest unterzogen hätte, ungebremst und unvermittelt aufeinander. Das Ergebnis beschreibt Tucholsky so:
In Deutschland "kümmern alle sich um alles. Jeder reibt sich an jedem. Benimmt sich einer schlecht, so sind gleich zwanzig da, die ihm das sagen, dreißig, die Partei gegen die zwanzig nehmen, und hundertundfünfzig, die ihre individualpsychologischen, wirtschaftspolitischen und allgemeinen Erwägungen an diesen Fall lehrhaft knüpfen. (...) Denn der Deutsche ist nicht nur ein Schulmeister, sondern vor allem ein öffentlicher Schulmeister. Er belehrt die Welt, er nimmt sie entsetzlich ernst, und besonders da, wo sie das gar nicht verdient, wo es nicht lohnt. Bei deutschen Zwischenfällen hat man immer das Gefühl, als seien sie nur Anlaß zur Entladung aufgespeicherter Energien, die nur darauf gewartet hätten, herauszupuffen. Die Deutschen sind mit Offensivgeist getränkt. Der Aufwand an Radau steht meist in gar keinem Verhältnis zur Sache – aber das Prinzip, das Prinzip muß durchgefochten werden. Die allgemeine Nervosität, die viel mehr ist als nur das, liegt auf der Lauer. Die Luft ist geladen. Ein unbedachtes Wort – und der Straßenbahnwagen verwandelt sich in eine Tobsuchtszelle. Belehrend, protestierend, gegen den Protest aneifernd, schreiend, rechthaberisch – so keifen sie durcheinander".
Das öffentliche Leben in Frankreich und überhaupt im westlichen Ausland, schließt Tucholsky, spielt sich "geräuschloser ab, glatter, geölter".

Aber genau das wusste Mme de Staël schon lange. Eine kleine Prise des gesellschaftlichen Geists Frankreichs würde den Deutschen ihrer Meinung nach mehr als gut tun. Vor allem sollten die Deutschen
"von den Franzosen lernen, sich in Kleinigkeiten minder reizbar zu zeigen, um ihre ganze Kraft für größere Gegenstände aufzusparen; sie sollten Starrsinn von Tatkraft, Grobheit von Festigkeit unterscheiden lernen; und da sie einmal so geneigt sind, ihr Leben an etwas zu setzen, so sollten sie es nicht im einzelnen durch eine Art kleinlicher Persönlichkeit wiederfinden, die sich das wahre Selbstbewusstsein nicht erlauben würde".
Es gibt Bücher, die muss man gelesen haben, um zu wissen, was in ihnen steht. Nur weiß man leider selten vorher, welche das sind.

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23.5.06

back to the future

SPIEGEL: Und wie sieht der Stil der Deutschen aus?

Ballack: Wir müssen jetzt, in der Vorbereitung, zusehen, dass wir schnell wieder dahin kommen, wo wir am Anfang waren.

(Quelle: SpiegelOnline)


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22.5.06

konzeptionslosigkeit als konzept

Der Begriff Inkrementalismus ist in Deutschland ein Fremdwort. Ein deutsches Pendant existiert nicht. Meist wird Inkrementalismus als "Strategie der kleinen Schritte" übersetzt. Böse Zungen sagen dazu auch gerne "Durchwursteln". Zum Kanon der klassischen deutschen Tugenden gehört der Inkrementalismus nicht. Umso mehr überrascht es, dass er in der deutschen Politik seit kurzem salonfähig ist.

So redet Angela Merkel in einem gerade erschienenen Interview mit der Süddeutschen Zeitung vehement der politischen Konzeptionslosigkeit das Wort:
"Es gibt in Deutschland eine große Sehnsucht, die großen Probleme mit einem einzigen großen Wurf zu beheben. Je größer die Probleme werden, umso größer wird diese Sehnsucht. Ich kenne dieses Gefühl aus den Zeiten der deutschen Einheit, als wir vieles in den neuen Bundesländern haben zusammenbrechen sehen, und man auf den großen Investor, auf den Durchbruch gewartet hatte. Damals wurde mir klar, dass der richtige Weg eher ein Mosaik ist und aus vielen kleinen Steinen zusammengesetzt wird. Das daraus entstehende Bild erschließt sich, wenn das Mosaik gelegt ist".
Die Reformpolitik der großen Koalition als Mosaik aus vielen kleinen Teilchen, das sich nicht nur dem Betrachter, sondern offenbar auch dem überraschten Künstler erst dann erschließt, wenn der letzte Stein gelegt ist. Politik wird zum Überraschungsei, Reformen zum Ratespiel und wenn einer der Kandidaten bei dieser Neuauflage des fast schon vergessenen "Dalli-Klick" errät, wohin es geht, dann stellt sich Quizmasterin Angela Merkel auf die Zehenspitzen und ruft freudestrahlend "Das war Spitze!".

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18.5.06

sektlaune

Die deutsche Geschichte aus der Perspektive einer sachsen-anhaltischen Sektflasche:
"150 Jahre Sektherstellung in Freyburg - das ist eine wahrhaft erstaunlich lange Zeit: Deutscher Bund, Bismarck, Kaiserreich, 1. Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, 2. Weltkrieg, DDR und Sozialismus, Deutsche Einheit und Soziale Marktwirtschaft. Wenn man diese 150 Jahre einmal im Zeitraffer an sich vorbeiziehen lässt, so wird erst richtig deutlich, welche großartige Leistung hier vollbracht wurde".
(Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede zum 150. Geburtstag der Rotkäppchen Sektkellerei am 17. Mai 2006).

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16.5.06

ping-pong, die zweite

Der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber erklärt das Kernstück der deutschen Föderalismusreform, die sogenannte Abweichungsregel: anhören (mp3).

Mehr zu dieser typisch deutschen Variante des Föderalismus hier.

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glaube und aberglaube

Die Trennung von Staat und Aberglaube ist in Deutschland fest verankert. Anders als in England wäre es bei uns undenkbar, dass das Verteidigungsministerium vier Jahre lang die Existenz von Ufos und Außerirdischen erforscht und die Ergebnisse stolz in einem nationalen Ufo-Bericht präsentiert. Der Rückgriff auf Zauberei, Magie, kosmische Schwingungen oder andere übernatürliche Kräfte zur Erklärung politischer Phänomene, ist unseren Politikern weitgehend verwehrt.

Dasselbe gilt jedoch nicht für die Trennung von Kirche und Staat. Die neuzeitliche Säkularisierung hat Deutschland nur gestreift, Staat und Religion sind bei uns auch heute noch außergewöhnlich eng verflochten. So ermächtigt das Grundgesetz in Artikel 140 die Religionsgesellschaften "auf Grund der bürgerlichen Steuerlisten nach Maßgabe der landesrechtlichen Bestimmungen Steuern zu erheben". Gegen eine kleine Aufwandsentschädigung treiben die staatlichen Finanzbehörden die Kirchensteuer auch gleich noch mit ein. An den staatlichen Schulen ist Religion ordentliches Lehrfach und selbst christliche Feiertage werden bei uns von nichts geringerem als der Verfassung geschützt. In der deutschen Parteienlandschaft ist das "C" nach dem "D" und dem "P" der dritthäufigste Buchstabe. Weltweit einzigartig sind schließlich die knapp 30 von den staatlichen Autobahndirektionen korrekt ausgeschilderten und als Rastplätze für die Seele gestresster Raser konzipierten Autobahnkirchen.

Offenbar ist in Deutschland mit Glauben auch heute noch Staat zu machen. Aberglaube und Magie hingegen wurden bei uns erfolgreich in den privaten Bereich verbannt, wo sie immer wieder die skurrilsten Blüten treiben. Auch in dieser gegensätzlichen Behandlung von offizieller Religion und wildwüchsigem Aberglauben äußert sich vielleicht eine typisch deutsche Autoritätshörigkeit.

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13.5.06

große koalition

Glaubt man dem Soziologen Niklas Luhmann, so gibt es in der Politik nur zwei denkbare Aggregatzustände: Regierung oder Opposition. Kein Politiker und keine Partei kann beides gleichzeitig sein. Politik ist ein unaufhörliches hin-und-her, ein ständiges Kofferpacken, ein endloses "Entweder/Oder".

Wenn
aber
"politische Bewegungen, etwa die 'Grünen', sich diesem Entweder/Oder nicht fügen, sondern gleichzeitig an der Regierung und in der Opposition operieren möchten, verhalten sie sich ohne Verständnis für strukturelle Systembedingungen, und ihre Erfolge können dann nur darin bestehen, Schwierigkeiten zu bereiten"
Was Luhmann nur den Grünen zutraute gehört heute plötzlich zum Alltag unserer großen Volksparteien. Beide versuchen seit Wochen, Regierung und Opposition in einem zu sein. Und wie Luhmann prophezeite besteht ihr einziger Erfolg darin, Schwierigkeiten zu bereiten.

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11.5.06

schweinezyklus

Die deutsche Variante des in ökonomischen Grundseminaren gerne zitierten Schweinezyklus kann jetzt in einer aktuellen Mitteilung des deutschen Bundestags nachgelesen werden:
Berlin: (hib/MIK) Einer außerplanmäßigen Ausgabe in Höhe von 20 Millionen Euro für Maßnahmen zur Stützung des Schweinemarktes hat der Bundesfinanzminister laut Unterrichtung durch die Bundesregierung (16/1399) zugestimmt. Wegen der Schweinepest in Nordrhein-Westfalen sei dort eine Vermarktung der Schweine nicht mehr möglich. Die Bundesrepublik Deutschland würde deshalb bei der EU-Kommission einen Antrag auf Sondermaßnahmen stellen. Die Regierung erwartet, dass die EU-Kommission zulassen wird, zur Entlastung des Schweinemarktes in Nordrhein-Westfalen 100.000 Mastschweine und 150.000 Ferkel zu Marktpreisen aufzukaufen und anschließend zu vernichten. Die geschätzten Kosten von 40 Millionen Euro würden zur Hälfte von der EU übernommen. Die restlichen 50 Prozent seien vom Bund zu tragen, heißt es weiter.
Während Wirtschaftswissenschaftler, Philosophen und Publizisten den Markt seit Generationen abwechselnd entweder als Problem oder als Lösung klassifizieren, macht die Politik ihn still und heimlich zur Staffage.

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selbstreflexion

In einem Land, in dem Vergangenheit und Zukunft auf nahezu alles ihre weiten Schatten werfen, bleibt die Gegenwart eigentümlich unterbelichtet. Zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsangst bleibt gerade noch Zeit für 15 Minuten Tagesschau und ein Feierabendbier. Viele scheint das nicht zu stören. Dennoch fällt auf, dass sich in letzter Zeit die Versuche häufen, etwas Licht in den schummrigen deutschen Alltag zu bringen.

Die jüngste Initiative ist die "Deutsche Überlebensbibel" von Spiegel Online. Als "kultureller Reiseführer" soll die Artikelserie ausländische Besucher der Fußball WM auf die nationalen Eigenarten der Deutschen vorbereiten. Ähnlich einem Beipackzettel, der über Risiken und Nebenwirkungen des ersten Deutschlandbesuchs informiert, werden unsere WM-Gäste behutsam und mit leicht-distanzierter Ironie auf solch ungewohnte Anblicke und Erfahrungen wie Langzeitstudenten, Servicewüste, Schrebergärten, Biowetterfühligkeit, Strandkörbe, Dr. Sommer, Mülltrennung und Nacktbaden vorbereitet. Obwohl kaum ein Stereotyp ausgelassen wird, ist der Wiedererkennungswert der Beiträge überraschend hoch.

Nur Charakterzug fehlt in der Liste deutscher Verschrobenheiten: die Tendenz, Selbstreflexion vorzugsweise vor ausländischem Publikum zu betreiben. Die Tatsache, dass die Spiegel-Serie bisher nur auf Englisch erschienen ist, ist der vielleicht eindrucksvollste Beleg hierfür.

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8.5.06

deutsche listen

Wer in der komplexen Realität moderner Industrie-, Freizeit-, Risiko- und Dienstleistungsgesellschaften den Überblick behalten will, der braucht Listen. Ohne Listen gäbe es weder Anfang noch Ende. Ohne Listen könnte ja jeder kommen ... oder niemand. Ohne Listen herrschte in allerkürzester Zeit die totale Beliebigkeit. Ganze Berufszweige verlören ohne ihre Listen den Boden unter den Füßen. Was, zum Beispiel, bliebe vom Autohändler ohne seine Schwacke-Liste? Was wäre der Artenschutz ohne die rote Liste? Was wäre noch Welterbe ohne UNESCO-Liste? Und wie lange noch rollte der Fußball ohne Transferliste? Listen sind aus unserer Welt nicht mehr wegzudenken. Sie helfen uns, dem Chaos ein Schnippchen zu schlagen.

Das wissen auch die Beamten des Bundesfinanzministeriums. Jedes Mal wenn ihr Hausherr öffentlichkeitswirksam an einer Steuerschraube dreht, sind sie monatelang damit beschäftigt, das restliche Steuersystem wieder ins Lot zu bringen. Daher verwundert es kaum, dass sie schon längst damit begonnen haben, die angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer vorzubereiten. So muss minutiös festgelegt werden, welche Güter und Dienstleistungen aufgrund ihrer besonderen Förderungswürdigkeit lediglich dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent unterliegen. Ein paar einfache Daumenregeln reichen da natürlich nicht aus.

Wie im aktuellen SPIEGEL zu lesen ist, benötigte das Finanzministerium nicht weniger als 140 Seiten, um alles das aufzulisten, was nach der Erhöhung der Mehrwertsteuer noch als besonders förderungsbedürftig gelten soll. Hierzu gehören Krabben und Garnelen, Maultiere und Maulesel, Pflanz- und Frühkartoffeln. Für Hummer, Langusten und Süßkartoffeln wie auch für den normalen Esel - sofern er nicht geschlachtet und zum Verzehr bestimmt ist - muss hingegen der volle Steuersatz berappt werden. Auf Ziermais und Gewürze entfällt der reduzierte Steuersatz, Zuckermais und Gewürzmischungen hingegen werden voll besteuert. Steuerlich gefördert werden, so der SPIEGEL, schließlich auch "Quallen, die Fettlebern von Gänsen und Enten sowie die Schlachtnebenerzeugnisse von Bibern, Walen, Fröschen und Schildkröten, sofern sie zur menschlichen Ernährung geeignet sind".

Eine nachvollziehbare Systematik ist dabei nicht erkennbar. Förderungswürdig ist das, was dem reduzierten Mehrwertsteuersatz unterliegt - nicht umgekehrt. Und andere, mindestens ebenso wichtige Listen, wie die des Artenschutzes, wurden offenbar sträftlich ignoriert. Anders ist die Mehrwertsteuerbefreiung für Schlachtnebenerzeugnisse von Walen, die zur menschlichen Ernährung geeignet sind, kaum zu verstehen.

Vor allem aber stellt sich angesichts dieses selbst in Listenform noch völlig unüberschaubaren Kuddelmuddels die Frage, ob sich der Staat mit seiner Praxis, jede noch so einfache Regel mit unendlich vielen hochkomplizierten Ausnahmen zu garnieren, nicht längst selbst überlistet hat.

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5.5.06

standortnachteil

Zu den größten Missverständnissen der jüngeren deutschen Geschichte gehört es, dass der Staat sich selbst als Standortfaktor versteht. Damit schürt er überzogene Erwartungen, denen er in der Regel nicht nachkommen kann. Ausgerechnet Franz Beckenbauer zeigt im Interview mit der FAZ nun in der für ihn typischen direkten und kompromisslosen Art die Grenzen des Standorts Deutschland auf:
"... soll sich doch niemand vorstellen, daß ein Ronaldinho oder Kaka nach Deutschland kämen. Die gehen nicht hierher. (...) Es ist halt Deutschland, es ist das Wetter, es sind atmosphärische Umstände".
Das ist zwar nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Schon vor 200 Jahren waren einem anderen Kaiser die atmosphärischen Umstände in Deutschland negativ aufgefallen. Aber angesichts des derzeitigen Standorthypes musste es einfach mal wieder gesagt werden.

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2.5.06

idee und wirklichkeit

Deutschland ist ein Land der Ideen ... nicht der Taten. Und das nicht erst seit der gleichnamigen Marketingkampagne der deutschen Wirtschaft zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Schon vor 200 Jahren charakterisierte Madame de Staël die Deutschen als kopflastiges Volk, das eher auf Theorie denn auf praktisches Handeln setzte. Auch Hölderlin bezeichnete uns Deutsche in seiner Ode "An die Deutschen" als "thatenarm und gedankenvoll".

Die jüngste Diskussion um Geburtenraten, Familie und Kinderkriegen bestätigt diese Einschätzung. Seit Wochen sind sich Politiker und Leitartikler, Aktivisten und Feuilletonisten einig, dass Deutschland mehr Kinder braucht. Eltern sollen mehr gesellschaftliche Anerkennung erfahren, Familien sollen stärker unterstützt werden, Kinderkriegen soll sich wieder lohnen. Jeder redet mit und hat Lösungen parat. Dennoch bleiben die Beiträge zur Debatte eigentümlich distanziert, theoretisch und unbeteiligt. Über Familie und Kinder wird gesprochen und geschrieben, als seien sie etwas fernes und exotisches. Diese Praxisferne geht so weit, dass die "Welt am Sonntag" dem wissbegierigen Leser in einer vierteiligen Serie nun erst einmal erklären muss "was Familien ausmacht und bewegt, ihre Freuden (und auch Leiden)". Neben Einbaumfahrten im Dschungel Borneos und Sonnenuntergängen auf der Insel Curaçao wird der Sonntagsleser vier Wochen lang in die unbekannten Welten des deutschen Kinderzimmers und der Einfamilienwohnung mitgenommen. Neben der exzentrischen Schuhsammlerin Imelda Marcos und der 80-jährigen Queen von England wird er mit den alltäglichen Freuden und Sorgen von sechs Müttern bekannt gemacht - von der alleinerziehenden über die kenianische bis hin zur Vintage-Mutter am Ende des 19. Jahrhunderts. Bei Sabine Christiansen, schließlich, diskutieren ältere Herrschaften aus Politik, Wirtschaft, Kirche und Medien über Kinderbetreuung versus Elterngeld.

Thatenarm und gedankenvoll. Nach-denken statt vor-denken. Das ist die deutsche Realität. Dabei würde ein bisschen weniger Theorie und ein bisschen mehr Praxis unserer Geburtenrate sicherlich nicht schaden.

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1.5.06

antibürokratie-bürokratie

Ein Gespenst geht um in Deutschland.

Nein, nein ... nicht Angela Merkel. An die neue Bundeskanzlerin haben wir uns überraschend schnell gewöhnt. Das Gespenst heißt Bürokratieabbau. Es ist allgegenwärtig und dennoch kaum zu fassen. Es taucht in nahezu jedem Zusammenhang auf und heult seinen penetranten Abgesang auf Gesetz, Staat, Verwaltung und alles, was das politische System davor bewahrt, ein wirkungsloser und selbstreferentieller Debattier- und Profilierungsclub zu sein. Es murmelt Dinge wie "schlanker Staat", "Rechtsvereinfachung" und "Beschleunigung" und macht damit den Staatsabbau zur Staatsaufgabe. Es will die Bürokratie verringern und bedient sich dabei der Mittel der ... Bürokratie.

Sein vorläufig jüngster Auftritt liegt nur wenige Tage zurück. Am Dienstag hat das Bundeskabinett ein "Programm Bürokratieabbau und bessere Rechtsetzung" beschlossen, das sowohl sprachlich als auch inhaltlich ein Paradebeispiel für gelungenen Bürokratieaufbau darstellt. So soll der Staat in Zukunft geplante und bestehende Gesetze auf die mit ihnen verbundenen Bürokratiekosten für Unternehmen überprüfen. Hierzu wird zunächst ein "Verfahren zur Identifizierung und Messung von Bürokratiekosten durch Informationspflichten auf Grundlage des Standardkosten-Modells"eingeführt. Für seine Umsetzung wird "auf Basis von Vorarbeiten des Statistische Bundesamtes kurzfristig ein Methodenhandbuch der Bundesregierung erarbeitet. In ihm werden Ablauf, Kriterien und Definitionen, die Grundlage für die Messungen nach dem Standardkosten-Modell sein sollen, einheitlich festgelegt". Ein so komplexes Verfahren kann die staatliche Verwaltung natürlich nicht in Eigenregie bewältigen. Hierzu sind - in bester bürokratischer Manier - mindestens
  1. eine übergeordnete Koordinationsstelle,
  2. eine Geschäftsstelle und
  3. ein unabhängiges Beratungsgremium
notwendig. Die Koordinationsstelle heißt in diesem Fall "Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau". Zusammen mit der Bundesregierung obliegt ihm die "Steuerung des Gesamtprozesses der Einführung einer Bürokratiekostenmessung". "Er sorgt zusammen mit dem Statistischen Bundesamt für die Einführung und Durchführung der Bürokratiekostenmessung auf Grundlage des Standardkosten-Modells". Eine "Geschäftsstelle Bürokratieabbau" wird beim Bundeskanzleramt eingerichtet. "Hierfür sollen neben dem Bundeskanzleramt die Ressorts sowie das Bundespresseamt auf Anforderung der Koordinatorin Mitarbeiter zur Verfügung stellen (voraussichtlich bis zu insgesamt ca. 10 Mitarbeiter). Die Einzelheiten dieser personellen Unterstützung durch die Ressorts wird der Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau festlegen. Die Geschäftsstelle wird in technischen Angelegenheiten bei Ein- und Durchführung des Standardkosten-Modells von einer Arbeitseinheit im Statistischen Bundesamt unterstützt". Das Beratungsgremium schließlich heißt "Normenkontrollrat". Aufgrund der formellen Unabhängigkeit dieses Rates ist das Regierungsprogramm deutlich vorsichtiger bei der Bestimmung seiner Aufgaben. So kündigt die Bundesregierung lediglich an, den Rat nach seiner Einrichtung "regelmäßig" in Anspruch zu nehmen. "Es wird zu einer vernünftigen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregierung und dem Normenkontrollrat gehören, sich über Erkenntnisse des Normenkontrollrates zu besserer Rechtsetzung und ihrer Berücksichtigung bei der Rechtsetzung zu verständigen, zu denen der Normenkontrollrat entsprechend der Koalitionsvereinbarung Berichte abgeben kann".

Insgesamt stellt sich die große Koalition den Bürokratieabbau dann so vor:
Jedes Ressort überprüft seinen Normenbestand eigenständig auf bestehende Informationspflichten und führt auf Basis des Standardkosten-Modells eine Bestands(Null-)messung durch. In diesem Zusammenhang dokumentiert das Bundesministerium der Justiz die Zuständigkeiten der Ressorts für alle geltenden Gesetze und Verordnungen des Bundes in der Datenbank des geltenden Bundesrechts. Es vervollständigt und aktualisiert die Angaben in Abstimmung mit den Ressorts. Die Einzelheiten des Verfahrens werden vom Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau festgelegt, der auch verbindliche Abbauziele für die Bürokratiekosten vorschlägt. Bereits nach Messung der besonders bürokratiekostentreibenden Informationspflichten schlägt der Staatssekretärsausschuss Bürokratieabbau dem Kabinett Maßnahmen zu deren Verringerung vor. Die Geschäftsstelle Bürokratieabbau leistet über das Statistische Bundesamt methodische Hilfestellung (u.a. Durchführung von Schulungen) und überwacht die Umsetzung der von der Bundesregierung beschlossenen verbindlichen Abbauziele durch die Ressorts. Bei neuen Regelungsvorhaben müssen die Ressorts zukünftig die Bürokratiekosten für Informationspflichten ausweisen. Dabei sind die Erfahrungen aus vorliegenden Messungen nach dem Standardkosten-Modell als Vergleichsgröße soweit vorhanden zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck werden die im Rahmen dieser Messungen ermittelten Daten dem künftigen Normenkontrollrat und den Bundesressorts von der Geschäftstelle Bürokratieabbau (Übermittlung durch Statistisches Bundesamt) zurVerfügung gestellt".
Damit steht der feierlichen Einführung einer neuen, mit der üblichen Verwaltungsakribie zu verfolgenden Staatsaufgabe nichts mehr im Wege. Das Einzige was noch fehlt ist ein detailliertes Ablaufdiagramm, das sich das Heer staatlicher Bürokratieabbaubeamten zur besseren Veranschaulichung ihres künftigen Aufgabenfeldes über den Schreibtisch hängen kann. Spätestens dann wird es der staatlichen Bürokratie gelingen, wie einst dem Baron von Münchhausen, sich glorreich am eigenen Schopf aus dem selbstgemachten Bürokratiesumpf zu ziehen.

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