Emergenz ist eines der Lieblingsworte der Systemtheorie. In komplexen Systemen, so die These, entstehen Dinge, die keines der Subsysteme alleine hätte hervorbringen können. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Auch in der Politik gibt es komplexe Systeme. Eins davon ist die Europäische Union. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass politische Entscheidungen auf vielen Ebenen - von der europäischen über die nationale bis hin zu den Regionen und Gemeinden - getroffen werden können. Nur selten sind politische Entscheidungen eindeutig einer Ebene zugeordnet. Und selbst wenn das der Fall ist, versuchen die anderen Ebenen trotzdem ständig, ein Wörtchen mitzureden.
In Deutschland war man lange der Ansicht, ein solches Mehrebenensystem müsse unweigerlich zu Entscheidungsblockaden und politischer Handlungsunfähigkeit führen. Je mehr Akteure und Ebenen an einer politischen Entscheidung beteiligt seien, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo ein Veto einlegt werde. Das Ganze, so die deutsche Sichtweise, war eindeutig weniger als die Summe seiner Teile. Eine Analyse, die auf den Sonderfall des bundesdeutschen Föderalismus auch durchaus zutrifft. Systematisch ignoriert wurde allerdings die Möglichkeit, dass irgendwo im Dschungel von Ebenen und Entscheidungskompetenzen neue Macht und Autorität entsteht, die weder auf Verfassungen noch auf Verträgen beruht - Emergenz also.
Einen sehr anschaulichen Fall emergenter Macht im politischen Raum hat der Soziologe Haucke
Brunckhorst beschrieben. In der taz
zeigt er, wie im Zuge des sogennanten
Bologna-Prozesses aus einer völkerrechtlich nicht bindenen
Erklärung europäischer Bildungsminister in wenigen Jahren eine der folgenreichsten und - gemessen an ihren eigenen Zielen - erfolgreichsten EU-Politik wurde. Und das, obwohl die Europäische Union im Bereich der Bildungspolitik überhaupt keine Gesetzgebungskompetenz hat. Irgendwo auf dem Weg von der gemeinsamen Deklaration nationaler Bildungsminister zur europaweiten Umstellung der Studiengänge auf das zweistufige Bachelor-/Master-System ist im europäischen Mehrebenensystem Autorität und Entscheidungsmacht entstanden, die vorher nicht existierte und von deren Existenz auch niemand wusste.
Aber wie funktioniert so etwas? Brunckhorst beschreibt das so:
"Die Minister kommen nach Haus, berichten vom Protokoll und erklären, wegen Brüssel müsste das Ganze jetzt eins zu eins umgesetzt werden. Und es wird umgesetzt. Das zur nachgeordneten Behörde degradierte Parlament kann nichts machen und fügt sich [...] zur fälligen Abstimmung, 93,99 Prozent Ja-Stimmen, ein Volkskammerbeschluss. Der Minister ist es nicht gewesen, Brüssel ist's gewesen und nimmt alle Schuld auf sich [...]. Die ursprüngliche [d.h. emergente] Akkumulation informeller Macht und Gesetzgebungskompetenz [...] ermöglicht der transnationalen Klasse das geräuschlose bypassing aller Legitimationsmechanismen. Informelle Beschlüsse ohne bindenden Charakter wirken wie das altrömisch-republikanische senatus consultum: ein Ratschlag ohne formelle Gesetzeskraft, dem sich trotzdem niemand entziehen kann. [...] Der Gesetzestext konstruiert sich selbst als Vollzug einer höheren Norm".
Was Brunckhorst hier aus demokratietheoretischer Perspektive als "bypassing" der öffentlichen Meinung und Umgehung demokratischer Legitimationsmechanismen zu Recht kritisiert, kann man auch wertfrei betrachten. Neben der Legitimation durch Einhaltung demokratischer Verfahren kann sich eine Politik nämlich auch durch ihr Ergebnis, ihren Erfolg legitimieren. Der Politikwissenschaftler Fritz W.
Scharpf hat das als "Output-Legitimation"
bezeichnet. Zwar ist die Reichweite dieser Output-Legitimation begrenzt und sie kann auch "nicht die Verletzung gravierender Interessen der Regierten rechtfertigen". Aber angesichts frappierender Entscheidungsblockaden in politischen Mehrebenensystemen wie der Europäischen Union kann sie helfen, emergente, also nicht in den Verfassungen vorgesehene und daher nicht von vornherein legitimierte Entscheidungsformen nachträglich zu rechtfertigen.
Das Ganze des komplexen Mehrebenensystems ist dann nicht mehr identisch mit der Summe seiner Teile. Mal ist es mehr und mal weniger ... je nachdem, welches Kriterium man anlegen möchte.
[
via blogressiv]
Labels: globalisierung, politikwissenschaft