30.6.06

neues deutschland

"Kopf immer oben halten, Ball annehmen, passen, bum, bum" [Jürgen Klinsmann, Die Zeit].
So bringt Klinsmann seine neue deutsche (Fußball)Philosophie auf den Punkt. Den meisten von uns wird es heute nachmittag vor allem auf das "bum bum" ankommen. Der wahrhaft revolutionäre Gedanke steckt aber in der Maxime "Kopf immer oben halten". Sie ist das postmoderne Gegenstück zu Diederich Heßlings Untertanenmotto "wer treten will, muss sich treten lassen". Während im wilhelminischen Deutschland bis in die Politik hinein der Fuß das wichtigste Körperteil war, steht heute selbst beim Fußball der Kopf im Mittelpunkt.

Nachtrag:
Ist es Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet nach diesem Spiel Kopf und Fuß für eine Weile von einer Faust verdrängt wurden, was natürlich nicht ganz ohne Folge blieb? Eine profane Schlägerei hatte Jürgen Klinsmann jedenfalls nicht im Sinn, als er etwas kryptisch von "bum bum" sprach.

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28.6.06

die entdeckung der nation

Während alle Welt diskutiert, ob die Begriffe Deutschland und Nation zusammenpassen, ist die Bundesregierung schon einen Schritt weiter. Am ersten Juli wird "Die Deutsche Bibliothek" per Gesetz in "Deutsche Nationalbibliothek" umbenannt. Interessant ist dabei vor allem die offizielle Begründung dieses Schrittes:
"Die bisherige Bezeichnung 'Die Deutsche Bibliothek', wie er (sic!) (...) für die vereinte Einrichtung aus Deutscher Bücherei und Deutscher Bibliothek im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 festgelegt worden war, blieb mit dem groß geschriebenen Artikel schwer eingängig."
Aha .... Die "Eingängigkeit" von Behördennamen ist also ein Kriterium für deren offizielle Bezeichnung. Eine geradezu bahnbrechende Modernisierung der staatlichen Bürokratie. Mal sehen wie lange es dauert bis die Namen neuer Behörden und Gesetze vor ihrer Verabschiedung von einem Namensgebungskontrollrat auf ihre Eingängigkeit geprüft werden. Der muss dann darüber entscheiden, was dem deutschen Beamten leichter über die Lippen geht: ein groß geschriebenes "die" oder der Namenszusatz "National".

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schlaglichter

Jeden Dienstag um 11 Uhr lernen wir ein bisschen mehr über Deutschland. Dann veröffentlicht das Statistische Bundesamt die Zahl der Woche. "Eine kurze und einprägsame Meldung im Wechsel aus verschiedenen Bereichen der amtlichen Statistik", so die amtliche Selbstbeschreibung. Oft steht die "Zahl der Woche" in Bezug zu einem aktuellen Ereignis oder einer aufflammenden politischen Debatte. Dann wirft sie ein kurzes, rasch wieder erlöschendes Schlaglicht auf das Land und seine Leute.

Unter anderem erfahren wir dort,
  • dass Deutschland Nettorasenmäherimporteur ist [...];
  • dass "jede zweite allein lebende Frau (52,7%) zum Jahresanfang 2005 mindestens ein Mobiltelefon" besaß [...] und
  • dass die Holländer Hauptabnehmer deutscher Wohnwagen sind [...].
Losgelöst aus ihrem eigentlichen Kontext, wirft die Zahl der Woche allerdings oft mehr Fragen auf, als sie beantworten kann:
  • "Eine Partie Schach, Monopoly oder eine Pokerrunde dauern im Durchschnitt 1 3/4 Stunden. (...) Überraschend ist, dass - wenn gespielt wird - die tägliche Spieldauer zwar über alle Generationen hinweg relativ stabil bleibt, aber Männer sich mit den Gesellschaftsspielen mehr Zeit lassen als Frauen. Dies fällt besonders bei den 25- bis 39-Jährigen auf: Die Spielerinnen dieses Alters verbringen durchschnittlich eine Stunde und 38 Minuten ihrer täglichen Freizeit damit, die Spieler hingegen zwei Stunden"[...].
Was sagen uns diese Zahlen? Spielen Männer langsamer als Frauen? Scheiden Frauen bei Gesellschaftsspielen früher aus? Und was machen die Frauen mit ihrer extra Zeit? Telefonieren sie mit einem ihrer Mobiltelefone? Blättern sie im Rasenmäherkatalog? Verkaufen sie Wohnwagen nach Holland? Alle diese Fragen bleiben unbeantwortet.

Deutlicher als jede wissenschaftliche Kritik zeigt die "Zahl der Woche" die Grenzen der Statistik auf. Aus dem Zusammenhang gerissen und ohne eine plausible Interpretation sind Zahlen nicht mehr als willkürliche Schlaglichter. Dennoch - oder gerade deshalb - besitzen sie eine hohe Suggestivkraft. So weiß etwa Bundesarbeitsminister Müntefering, dass der Erfolg der Arbeitsmarktpolitik zu einem nicht unerheblichen Teil "auch eine Frage der Statistik" ist. Auf die Frage einer Sonntagszeitung, ob die Hartz-Reform alles in allem ein Erfolg sei, antwortet er:
"In Deutschland gelten 3,1 Prozent derer im Erwerbsalter als nicht erwerbsfähig, in Großbritannien sind es 6,5 Prozent. Wenn wir so zählen würden wie die Briten, hätten wir etwa 1,8 Millionen Arbeitslose weniger in der Statistik".
Wenn wir so zählen würden wie die Briten, hätten Frauen vielleicht auch mehr Zeit zum Spielen. Aber das ist natürlich wilde Spekulation. Genau so wie die meisten offiziellen Interpretationen amtlicher Statistiken.

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27.6.06

...

SPIEGEL: Der Klingelton Ihres Mobiltelefons ist die Nationalhymne. Sarkasmus?

Kahn: Mein Beitrag zum Patriotismus.

[Quelle]

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26.6.06

jetzt geht's los

Gemessen an seiner Einwohnerzahl und wirtschaftlichen Stärke hat Deutschland überraschend wenig Einfluss auf die Politik und Gesetzgebung der EU. Über die Gründe hierfür zerbrechen sich Politikwissenschaftler seit Jahren die Köpfe. Erklärungsversuche gibt es viele. Mal wird argumentiert, dass Deutschland die Bedeutung des europäischen Rechts einfach unterschätzt habe. Mal wird gezeigt, dass andere Länder eine viel wirksamere Personalpolitik in Brüssel betreiben, indem sie gezielt ihre fähigsten Beamten in die Europäische Kommission schicken.

Woran es wirklich liegt erklärt jetzt Bundestagspräsident Norbert Lammert: Deutschland hat jahrzehntelang schlicht und einfach nicht verstanden, was da in Brüssel beschlossen wurde. Warum? Weil die meisten EU-Dokumente in voller Länge bislang nur auf Französisch und Englisch veröffentlicht wurden. Auf Deutsch gab es meist nur knappe Zusammenfassungen. Nun hat die Kommission angekündigt das zu ändern und promt freut sich Lammert:
"So ist auch das deutsche Parlament in der Lage, sich schnell und effektiv an den Beratungen zu beteiligen und der Kommission zügig die notwendigen Rückmeldungen zu geben."
Gerade mal ein halbes Jahrhundert nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird damit auch Deutschland massiv in die Gestaltung der europäischen Politik eingreifen, denn, so der Bundestagspräsident:
"Deutsch ist neben Englisch und Französisch gleichberechtigte Verkehrs- und Arbeitssprache - die deutsche Volksvertretung kann deshalb auch deutschsprachige Dokumente erwarten".

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glaubensfragen

"Meine Erwartungen haben sich unglaublich erfüllt. Diese Mannschaft glaubt an sich selbst. Die kann noch eine ganze Menge erreichen. Und ich glaube auch daran".

[Zitat: Angela Merkel]


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24.6.06

visuelle identität

In einer Zeit, in der in Deutschland mal wieder heftig über die nationale Identität debattiert wird, ist es beruhigend zu wissen, dass die Bundesregierung ihre eigene schon 1999, also lange vor dem letzten Regierungswechsel, gefunden hat:
[Die visuelle Identität der Bundesregierung]

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23.6.06

staatsbürgerkunde

"Der Vermittlungsausschuss ist das intransparenteste Gremium, das Deutschland zu bieten hat. Aus ihm darf nämlich nicht berichtet werden, wer was gesagt hat, so dass, wenn hinterher ein nicht zufrieden stellendes Ergebnis herauskommt, jeder sagen wird: Ich war es nicht. Der Vermittlungsausschuss bietet überhaupt erst die Generalentschuldigung schlechthin, die die Bürgerinnen und Bürger teilweise in die Verzweiflung treibt."
[Angela Merkel zur Einweihung des Bürogebäudes einer Unternehmensberatung]

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22.6.06

publikumsbeschimpfung

Bis vor kurzem galten die deutschen Sozialdemokraten als ziemlich gute Rhethoriker während man Wortgewandheit und Sprachbegabung bei der CDU/CSU mit der Lupe suchen musste. Abgesehen vom Pathos eines Richard von Weizsäcker und dem tiefgründig orakelnden Heiner Geißler gab es in den letzten Jahrzehnten kaum einen konservativen Politiker, dem man einfach so mal zuhören mochte. Doch in jüngster Zeit gerät die rhetorische Machtbalance in Wanken, langsam kommt Bewegung ins politische Sprechtheater. Während die sozialdemokratische Karriereplanung offenbar immer häufiger ohne Rhetorikschule auskommt, entdecken die Christdemokraten - und allen voran die Bundeskanzlerin - mit einem Mal lauter neue Kommunikationsformen. Vom Kanzlerinnen-Podcast über Merkels neue Selbstironie bis zur neuesten kommunikativen Errungenschaft: der Publikumsbeschimpfung. Ausgerechnet in dem Moment, wo Peter Handke in die Mühlen der politisch und moralisch korrekten Feuilletonkritik gerät, entdeckt die Bundeskanzlerin die Ausdrucksform, mit der Handke vor ziemlich genau 40 Jahren berühmt wurde. Aus heiterem Sommerhimmel und mitten in die überbordende WM-Begeisterung hinein beschimpft die Kanzlerin Deutschland als "Sanierungsfall". Die Haushaltslage sei desolat und werde auch durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht besser. Getreu dem Motto "Angriff ist die beste Verteidigung" attackiert Merkel das ganze Land.

Aber was soll das Ganze eigentlich? Während es Handke mit seiner Publikumsbeschimpfung darum ging, erstarrte Darstellungsformen aufzubrechen und die Zuschauer zum Nachdenken über das Theater anzuregen, verfolgt die Bundeskanzlerin genau das entgegengesetzte Ziel. Mit Hilfe innovativer Darstellungsformen versucht sie, erstarrte Politikmuster zu kaschieren und das ebenso alte wie ineffektive Polittheater - kurzfristige Problemverschiebungen als Reaktion auf strukturelle Langzeitprobleme - möglichst lange über die Zeit zu retten.

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die welt zu gast bei mülltrennern

Deutschland ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Jedenfalls was die Abfallentsorgung betrifft. Der gute alte Abfalleimer ist in deutschen Haushalten längst einer Batterie von Sekundärrohstoffsammelbehältern gewichen. Aus dem gedankenlosen Wegwerfen früherer Zeiten ist dank Sesamstraße, Löwenzahn und Kreislaufwirtschaftsgesetz eine bewusst wahrgenommene und intellektuell anspruchsvolle Entscheidungssituation geworden - einschließlich aller damit verbundenen Zielkonflikte und Entscheidungsdilemmata ("Muss ich den Joghurtbecher ausspülen bevor ich ihn in den gelben Sack gebe?", "In welchen Glasbehälter gehören blaue Flaschen?", "Darf das Kunststofffenster von Briefumschlägen in die Papiertonne?").

An all das haben wir uns nicht nur gewöhnt, viele von uns haben ihre Mülltrennung inzwischen sogar richtig lieb gewonnen und fest in ihr gutes Gewissen integriert. Doch wie so oft genügt uns das stille Bewusstsein, Gutes zu tun, nicht. Es überkommt uns ein unwiderstehlicher Drang, die gute Tat auch dem Rest der Welt mitzuteilen. Und wie so oft nimmt diese Mitteilung schnell die Form der Belehrung an. Wie sonst ist es zu erklären, dass ausgerechnet an Flughäfen, Bahnhöfen und bei Großveranstaltungen, also dort, wo sich besonders viele ausländische Besucher aufhalten, komplizierte und mehrsprachig beschriftete Abfalltrennsysteme aufgestellt sind, während der Rest unserer Städte mit einfachen Mülleimern Vorlieb nehmen muss? Warum müssen wir unser Verhalten immer gleich zum globalen Maßstab machen? Ist es eine Art pseudopatriotischer Ersatzhandlung, frei nach Emanuel Geibel:
"Und es mag am deutschen Wesen // Einmal noch die Welt genesen"?
Oder ist es einfach nur banale Wirtschaftsförderung, die sich der vagen Hoffnung hingibt, ausländische Politiker und Geschäftsleute auf die ausgeklügelten deutschen Trennsysteme und Sortiertechniken aufmerksam zu machen? Vielleicht ist ja beides. Eine Symbiose aus verdrängtem Patriotismus, der sich ein neues, unverdächtiges Ventil sucht, und wirtschaftspolitischem Standortwahn. Die Welt wird darüber schmunzeln, kann sich mit dem neuen deutschen Saubermannimage aber bestimmt gut abfinden.

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21.6.06

deutsch ist ...

... wenn Frage und Antwort nicht zusammen passen.

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20.6.06

mehr ist weniger

"Deregulierung", "Bürokratieabbau" und "schlanker Staat" sind die Schlagworte, mit denen sich unser Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts rhetorisch auf Trab hält. Der öffentliche Sektor setzt sich selbst auf Diät. Zumindest in den offiziellen Verlautbarungen. Die Wirklichkeit sieht allerdings anders aus. Frei nach dem Motto "schlank ohne zu hungern" werden neue Behörden geschaffen, die bisher niemand brauchte. Nach dem Normenkontrollrat, dessen Name längst vergessen geglaubte staatssozialistische Erinnerungen wachruft, hat sich die Regierung aus der großen Kiste bürokratischer Systemerweiterungen nun ein Bundesamt für Justiz herausgefischt. Begründet wird dies mit dem Argument, dass die Umsetzung internationaler Verträge und europäischen Rechts von einer nationalen "Kontaktstelle" koordiniert werden müsse. Nun gibt es europäische Richtlinien und völkerrechtliche Verträge aber nicht erst seit diesem verregneten Sommer und auch nationale Kontaktstellen existieren schon seit langem. Sie heißen je nach Rechtsbereich Bundesjustizministerium, Bundeszentralregister oder Generalbundesanwalt und haben ihre Arbeit bisher eigentlich ganz gut gemacht. Warum also eine neue Behörde? Die offizielle Antwort lautet "Verschlankung":
"Sowohl das Bundesministerium der Justiz als auch der Generalbundesanwalt konzentrieren sich auf ihre Kernaufgaben - ganz im Sinne des Programms 'Moderner Staat - Moderne Verwaltung'".
Schlank ohne zu hungern. Die überflüssigen bürokratischen Pfunde werden einfach in eine neue Behörde verlagert und schon ist die Bundesjustiz neu aufgestellt und "fit" für den "europäischen und internationalen Justizverkehr".

Neben dieser offiziellen gibt es aber noch eine überraschend ehrliche zweite Antwort. Sie lautet regionale Standortpolitik. Auf der Internetseite der Initiative Bürokratieabbau heißt es zu den Zielen des neuen Amtes unverblümt:
"Das BfJ sichert in Bonn dauerhaft Arbeitsplätze und wertet den Justizstandort Bonn auf".
Im Gesetzentwurf selbst steht:
"Im Ergebnis werden in der neu zu schaffenden Bundesoberbehörde herausragend wichtige Zuständigkeitsbereiche geschaffen, die für attraktive Arbeitsplätze am Standort Bonn sorgen".
Und Justizministerin Zypries schreibt in ihrer Pressemitteilung:
"Es wird niemand von Berlin nach Bonn umziehen müssen, und auch nicht umgekehrt. Wir schaffen eine zukunftsweisende Perspektive für die Bonner Bediensteten des Bundesministeriums der Justiz und des Generalbundesanwalts und erfüllen den vorgesehenen Bonn-Ausgleich mit Leben".
Traditionelles Versorgungsdenken verkleidet als modernes Fitnessprogramm und bürokratische Schlankheitskur. Das ist anscheinend die neue Berliner Rhethorik.

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16.6.06

ist der ruf erst ruiniert ...

Aus einer Pressemitteilung des Deutschen Bundestages:
"In der hib Nr. 182 vom 13. Juni 2006 ist es in der Meldung über antisemitische Straftaten im ersten Quartal 2006 zu einer Verwechslung gekommen. Die meisten Straftaten, nämlich 47, im Phänomenbereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" wurden im Bezugszeitraum nicht aus Brandenburg, sondern aus Berlin gemeldet."
[Quelle: heute im bundestag 188/2006]

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14.6.06

o-töne (1)

"Wir haben uns vor Leinwänden zu versammeln und unser Team anzufeuern, als würde es helfen. Wir glauben ja auch, daß Lichterketten gegen fremdenfeindliche Übergriffe schützen" [Thomas Brussig in der Welt].

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13.6.06

abstrakte anordnungen

"Eine Flagge ist eine abstrakte Anordnung von Farben, Flächen und Zeichen in meist rechteckiger Form. Sie dient in immaterieller oder materieller Form (meist als Tuch) zur Markierung der Zugehörigkeit bzw. der Vertretung von Gemeinschaften und Körperschaften" [Wikipedia].

Diese Definition in der deutschen Wikipedia ist symptomatisch für das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nationalflagge. Eigentlich will niemand etwas damit zu tun haben, mit dieser rechteckigen Anordnung materieller und immaterieller Markierungen, die der Abstraktion farbiger Gemeinschaften und Körperschaften in Tuchform dient ... oder so ähnlich. Die Deutschlandflagge ist etwas für Behörden und Parlamente, nicht für Privatleute. Wann und wo sie zu sehen ist, regelt der Beflaggungserlass der Bundesregierung. Unter anderem heißt es dort:
"Die Beflaggung beginnt bei Tagesanbruch, jedoch nicht vor 07.00 Uhr, und endet bei Sonnenuntergang. Erstreckt sich die Beflaggung über mehrere Tage, so sind die Flaggen bei Sonnenuntergang einzuholen und am Morgen wieder zu hissen. Werden Flaggen angestrahlt, können sie auch nach Sonnenuntergang gesetzt bleiben".
Sicherlich gibt es irgendwo auch noch einen ergänzenden Erlass, der die Verwendung von Energiesparlampen bei der nächtlichen Beleuchtung abstrakter Farb-, Flächen- und Zeichenkombinationen in rechteckiger Tuchform vorschreibt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Bis vor wenigen Tagen jedenfalls war die Deutschlandflagge sicher in der bürokratischen Parallelwelt der Staatsakte und Dienstvorschriften gefangen. Mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft hat sich das schlagartig geändert. Plötzlich flattern die schwarz-rot-goldenen Fahnen überall. An Häusergiebeln, auf Balkonbrüstungen, als serviettengroße Wimpel an gräulichen Autofensterhalterungen. Für Nachschub sorgt das 7-teilige Deutschlandfahnenset für 9,99 Euro im Billigdiscounter. Und all das passiert ohne jeden offiziellen Billigflaggenerlass.

Abseits der offiziellen Patriotismusdebatte hat sich die Flagge zum modischen Accessoire gewandelt und verliert als solches jede Symbolkraft. Erst in ihrer massenhaften Verwendung als dekoratives Beiwerk wird sie tatsächlich zu dem harmlosen Stofffetzen, den die lexikalische Definition schon immer gerne aus ihre gemacht hätte: eine abstrakte Anordnung von Farben, Flächen und Zeichen in meist rechteckiger Form, die in materieller Form (als Tuch) zur Markierung der Zugehörigkeit von Gemeinschaften - z.B. Fußballmannschaften - verwendet wird.

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12.6.06

fi-fa-fu-ßball

"Ich erkläre die FIFA-Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland für eröffnet" [WM-Eröffnungsrede von Bundespräsident Köhler].

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8.6.06

zeitempfinden

"Das Verdienst der Deutschen liegt in der guten Ausfüllung der Zeit; das Talent der Franzosen besteht darin, dass sie die Zeit vergessen machen."
Die nächsten vier Wochen werden zeigen, ob dieses fast 200 Jahre alte Zitat der französischen Fußballkommentatorin Madame de Staël unsere Nationalmannschaft auch heute noch treffend beschreibt. Dass die Deutschen - mit Ausnahme Albert Einsteins - ein eher funktionalistisches Verhältnis zur Zeit haben, wissen wir spätestens seit Sepp Herbergers bahnbrechender Feststellung, das Spiel habe 90 Minuten. Wer anders als ein Deutscher konnte auf die Idee kommen, das Fußballspiel rein funktional, also als Produkt von Dauer ("90 Minuten") und Ziel ("Das Runde muss in das Eckige") zu definieren?

Vor zwei Jahren nun ist Jürgen Klinsmann angetreten, das Minutenzählen zu beenden, die kalte Funktionalität hintanzustellen, und die reine Spielfreude als Tugend zu rehabilitieren. Sollte ihm das gelingen, wäre es ein eindrucksvoller Beleg für die begrenzte Haltbarkeit nationaler Stereotypen.

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weniger ist mehr

Anspruch und Wirklichkeit, Theorie und Praxis klaffen in Deutschland oft meilenweit auseinander. Ein Beispiel hierfür sind die sogenannten Mehrgenerationenhaushalte. Was in anderen westlichen Industrieländern oft noch zur Normalität gehört, nämlich dass Kinder, Eltern und Großeltern mitunter im selben Haus oder in enger Nachbarschaft leben, existiert in Deutschland nur noch in der Theorie ... oder in den Familienserien des öffentlich-rechtlichen Vorabendfernsehens. Selbst in der trocken-technokratischen Vorstellung des neuesten Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes schwingt die Sehnsucht nach südländischem Familienflair unterschwellig - und hinter Stoiberscher Wortakrobatik versteckt - mit:
"Drei und mehr Generationen - bestehend aus Eltern, Kindern und Großeltern sowie gegebenenfalls Urgroßeltern und Enkeln - wohnten nur in knapp 1% der Haushalte unter einem Dach. Damit bestanden die Mehrgenerationenhaushalte, in denen mindestens zwei in gerader Linie verwandte Generationen in einem Haushalt zusammenleben, fast ausschließlich aus Zweigenerationenhaushalten".
In einem Land, in dem Mehrgenerationenhaushalte fast ausschließlich Zweigenerationenhaushalte sind, die öffentliche Statistik sie aber trotzdem beharrlich als Mehrgenerationenhaushalte ausweist, ist der Realitätsverlust bereits ziemlich weit fortgeschritten. Da wundert es auch nicht, dass die Bundesregierung mit insgesamt 88 Millionen Euro sogenannte "Mehrgenerationenhäuser" fördert, deren Name generationenübergreifendes Leben suggeriert, die in Wirklichkeit aber kaum mehr als ein normaler Bürgerladen sind. Das Familienministerium beschreibt sie so:
"Sie sind Anlaufstelle, Netzwerk und Drehscheibe für familienorientierte Dienstleistungen, Erziehungs- und Familienberatung, Gesundheitsförderung, Krisenintervention und Hilfeplanung. Dabei sollen sie eigene Angebote der Frühförderung, Betreuung, Bildung und Lebenshilfe entwickeln".
Familienministerin Ursula von der Leyen fügt hinzu:
"Das sind Orte, an denen sich die Menschen tagsüber treffen können, wo es eine Krabbelgruppe mit einer Altenbegegnungsstätte gibt, ein Jugendzentrum und Hausaufgabenhilfe unter einem Dach, so dass wir einander stärker helfen können".
Planung, Dienstleistung, Intervention. Das ist das gesamte sozialbürokratische Programm unter einem Dach, theoretisch verklärt als Rückbesinnung auf traditionelle Familienstrukturen. Deutlicher kann der Kontrast zwischen Theorie und Wirklichkeit kaum ausfallen.

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7.6.06

merkel multimedial

Deutschland braucht Innovationen und die Bundeskanzlerin macht es vor. Ab morgen gibt es den weltweit einzigartigen Kanzlerinnen-Podcast. Unter dem Titel "Angela Merkel - die Kanzlerin direkt" gibt es dann regelmäßig Videobotschaften, in "denen die Kanzlerin die Politk der großen Koalition erklärt". Die kann man sich dann, wenn einem langweilig ist, auf dem iPod oder dem Videohandy ansehen. Merkel "herunterladen und mitnehmen". Darauf haben sicher viele gewartet. Und denjenigen, die noch nicht wussten, dass sie darauf gewartet haben, erklärt die Bundesregierung auf ihrer Internetseite die Vorzüge dieser neuen Form der politischen Bildung:
"Video-Podcasting per RSS - was auf den ersten Blick unverständlich klingt, ist ganz einfach: Audio- oder Film-Dateien herunterladen, mitnehmen und jederzeit an jedem Ort der Welt anschauen. Das Neue beim Podcasting ist, dass die Videos, Musikstücke, Hörspiele per Abonnement auf den Rechner oder die Abspielgeräte kommen. Jede Aktualisierung wird automatisch auf das Endgerät übertragen".
Musikstücke, Hörspiele, Filmdateien ... die große Koalition hat sich offenbar mehr vorgenommen, als im Koalitionsvertrag steht.

[Foto: REGIERUNGonline]

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6.6.06

heimspiel

"In der Ära der Globalisierung (...) verwandelt sich Heimat in Standort".
Dieser Satz des Philosophen Peter Sloterdijk könnte die merkwürdige deutsche Mythologisierung des "Standorts" erklären. Demnach überträgt sich die emotionale Heimatbindung der Deutschen, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, in einem unmerklichen Prozess auf den wirtschaftlichen Standort. Die Form verändert sich, aber die Substanz bleibt erhalten. Der Standort wird zur zweiten Heimat. Dabei geht auch die Irrationalität, die das deutsche Verhältnis zur Heimat prägt, unhinterfragt auf den Standort über. Deutsche Standortpolitik ist die Folklore des 21. Jahrunderts.

Nur auf die Standortmusik und den Standortfilm in unserem Heimatfernsehen werden wir wohl noch ein paar Jahre warten müssen. Und bis dahin dürfen wir auch noch richtiges Heimweh haben falls wir uns einmal zu weit von unserem Standort entfernen sollten.

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3.6.06

patri(di)otismus

Wenn ein Deutscher ohne die gemeinhin übliche kritische Distanzierung über Deutschland spricht, dann ist die nächste Runde der nichtendenwollenden Patriotismusdebatte nicht weit. Jüngstes Beispiel ist das gerade noch rechtzeitig zur Fußball-WM erschienene Buch des Spiegel-Kulturchefs Matthias Matussek mit dem patriotismusverdächtigen Titel "Wir Deutschen", das eine - aus der Sicht der Werbeabteilung sicher nicht unerwünschte - Patriotismusdebatte entfacht hat.

Dass in Deutschland kontrovers über Patriotismus diskutiert wird, hat gute Gründe. Die Frage, ob man ein Land lieben kann, das für das schlimmste Verbrechen der Menschheit verantwortlich ist, ist berechtigt. Die Art, wie die Diskussion geführt wird, erstaunt jedoch ein wenig. Im Mittelpunkt der Debatte stehen einzig und allein die individuellen Motive, die Menschen dazu bringen, sich als Patrioten zu definieren. Und die können natürlich nicht lauter sein. So genügt es Henryk Broder - in einer Art Generalkritik - auf die niederen Motive des Deutschland-Patriotismus anzuspielen, um das Matussek-Buch insgesamt gründlich zu diskreditieren. Als Kronzeugen läd er dabei zum x-ten Mal den Philosophen und Aphoristiker Arthur Schopenhauer:
"Aber jeder erbärmliche Tropf, der nichts in der Welt hat, darauf er stolz sein könnte, ergreift das letzte Mittel, auf die Nation, der er gerade angehört, stolz zu sein. Hieran erholt er sich und ist nun dankbarlich bereit, alle Fehler und Torheiten, die ihr eigen sind, mit Händen und Füßen zu verteidigen",
peppt ihn mit ein bisschen sozialkritischem Horkheimer auf:
"Der Patriotismus in Deutschland ist so furchtbar, weil er grundlos ist"
und wischt die von Schopenhauer und Horkheimer hinterlassene Aura verstaubter Bibliotheken anschließend schnell mit einer saloppen Bob-Dylan-Zeile weg:
"Der Patriotismus ist die letzte Zuflucht, an die sich der Strauchdieb klammert".
In ein und demselben Atemzug läutet Broder eine neue Runde der deutschen Patriotismusdebatte ein und erklärt sie auch gleich wieder für beendet. Die naheliegende Frage, welche gesellschaftliche Funktion eine - in anderen Ländern weitaus weniger tabuisierte - Identifikation mit dem eigenen Land eigentlich erfüllt oder erfüllen könnte wird in der deutschen Debatte dagegen so gut wie nie gestellt. In einer Zeit, in der jedes denkbare menschliche Verhalten soziologisch seziert wird, in der vom Amoklauf bis zum Zeitmanagement alles in seinem gesellschaftlichen Kontext gesehen wird, bleibt es - zumindest in Deutschland - um die sozio-politische Bedeutung des Patriotismus eigentümlich still. Die öffentliche und sogar die wissenschaftliche Debatte verharrt in einer selbstreferentiellen Endlosschleife während die Deutungshoheit über den Begriff des Patriotismus wahlweise an opportunistische Selbstdarsteller oder nationalistische Randgruppen abgetreten wird.

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1.6.06

La Dolce FIFA

In jedem noch so schlimmen Durcheinander entdeckt man bei genauerem Hinsehen Regelmäßigkeit und Ordnung. So, oder so ähnlich, lautete die zentrale Botschaft der Ende der 80er Jahre kurzzeitig populären Chaostheorie. Was die Chaosforschung allerdings nicht wusste, wahrscheinlich auch gar nicht wissen wollte: zuviel Ordnung schlägt mindestens ebenso leicht ins Chaos um. Man braucht sich bloß die detaillierten Regeln der FIFA für den Kauf, Umtausch oder die Weitergabe von WM-Tickets anzusehen, um zu sehen wie leicht Überregulierung in heillosem Durcheinander resultieren kann.

Eigentlich sollte das komplexe Regelwerk helfen, die wenigen Eintrittskarten gerecht unter den vielen Fußballfans ("Mitgliedern der Allgemeinheit" im FIFA-Deutsch) zu verteilen und den Weiterverkauf auf dem Schwarzmarkt zu verhindern. Jetzt, acht Tage vor Beginn der WM, ist sein spürbarster Effekt eine allgemeinen Verunsicherung darüber, wer überhaupt als rechtmäßiger Karteninhaber gelten darf. Und spätestens wenn eine halbe Stunde vor Spielbeginn am Stadioneingang die Daten des RFID-Chip auf der Eintrittskarte nicht mit den Ausweisdaten des Ticketinhabers übereinstimmen oder das eine oder andere Lesegerät nicht funktioniert, dann - so ist zu vermuten - werden die sorgfältig ausgetüftelten Regeln in Durcheinander, Chaos und Regellosigkeit zerfallen.

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